Eine Theodicee von Johann Gottfried Herder

»Erwache!« sprach ein Gott, und sieh! ich sah,
Und weite Nacht war um mich da,
Und über mir ein Heer gesä'ter Sterne
Erhob mein Aug'! Wie der, dem Orkus nah
In Cimmers Kluft nur Höllenstimmen ferne
Herrauschen hört, nur ew'ges Schwarze sah
Und, schnell ins Meer des Lichts entzückt,
Weitäugig starrt - halb sieht - nur Zauberei erblickt
Schon sehen lernt - und sieht, sieht Alles Pracht!
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Er fühlt's, nennt, stammelt: »Schön!« und lacht:
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So stand ich, staunte, griff nach Sternen, staunte mehr,
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Und Wirbelwind ward um mich her.
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Schnell bin ich hoch - tief unter mir die Erde,
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Bei mir ein Gott, Mensch an Geberde,
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Vor mir der Sonnenkreis.
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Ich sah Unendliches - ich fühl und seh' und höre
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Die Harmonie der ganzen Sphäre,
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Was Newton zählt, der Seraph weiß
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Und Gott erschuf. - Gott, Du bist hier;
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Der Seraph singt Dir, Newton forscht dort Sterne,
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Die ich von ihm einst, meinem Seraph, lerne,
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Und ich - hier knie' ich Dir.
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O Du, von dem einst Funken, Sonnen, troffen,
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Der von dem Chaos Klöße riß
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Noch fühlen sie den Wurf; sie laufen dort, sie brennen,
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Bis einst Dein Wink ins Nichts sie stieß.
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Noch glänzt im Mittelthron die Sonn', Dein Bild,
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Die um sich Welten ewig ohne Ruh
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An goldnen Seilen lenkt. Die stelltest Du!
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Wer, wo bist Du? - Könnt' ich Dich, ach, nur sehn, nicht nennen!
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Wen? - Dich, in Sonnen und ins Nichts verhüllt!
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Du schufst da Was und Wenn und Wo?
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Und bist Du -?
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Ach, Erde, Mutter, der ich bin,
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Was bist Du? mir schon! was dem Erdengeist,
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Der von dem höchsten irdischen Gedanken hin
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In Deine Tiefe blickt und Engel wird?
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Und was denn Gott? O Gott, mein Auge irrt
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Ueber und unter mir umher - mir wird
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Das All zum Nichts, das Nichts zum Allen!
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Du bist im Nichts das All. - Wer reißt
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Mich los von Erd' und Sonne? dort sind Sonnen!
43 
Sonnen, wo ist die, um die Ihr Erden seid?
44 
Wo ist des Allen Kraft? wo hat das Was begonnen?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.2 KB)

Details zum Gedicht „Eine Theodicee“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
340
Entstehungsjahr
1763
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Eine Theodicee“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem bedeutsamen Philosophen, Theologen und Dichter der deutschen Aufklärung. Das genaue Entstehungsdatum des Gedichts ist nicht bekannt, allerdings lebte Herder von 1744 bis 1803, also in einer Zeit großer Umwälzungen und Fortschritte in der Wissenschaft und Philosophie.

Beim ersten Durchlesen fällt sofort der erhabene und fast schon überwältigende Ton des Gedichts auf. Es ist durchdrungen von einer mächtigen Vision des Universums und der Stellung des Menschen und Gottes darin. Das lyrische Ich wird erweckt von einem Gott und findet sich inmitten der Sterne wieder, in einer Welt von Schönheit und Harmonie, aber auch Rätseln und Unbegreiflichkeit.

Herder beschreibt in seiner Dichtung die Überwältigung und das Staunen des lyrischen Ichs in Anbetracht der Größe und Majestät des Universums. Diese Erkenntnis führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Position des Menschen und des Gottes im Universum. Es werden Fragen nach dem Ursprung des Seins, der Göttlichkeit und der Stellung des Menschen gestellt, die typisch für die philosophische und theologische Debatte in Zeiten der Aufklärung waren.

Formal fällt auf, dass das Gedicht aus nur einer Strophe besteht, jedoch mit 44 Versen recht umfangreich ist. Es folgt keinem speziellen Reimschema, was Struktur und Rhythmus bietet, ohne dabei zu streng oder formell zu wirken.

Die Sprache des Gedichts ist geprägt durch eine sehr bildhafte und kraftvolle Ausdrucksweise. Es wird eine Mischung aus pathetischen, erhabenen und philosophischen Sprachelementen verwandt. Besondere metaphorische Bilder wie „Erwache!“, „weite Nacht“, „Heer gesä'ter Sterne“ oder „die Harmonie der ganzen Sphäre“ erzeugen eine Atmosphäre der Erhabenheit und der spirituellen Suche nach Antworten.

Insgesamt handelt es sich bei „Eine Theodicee“ um ein tiefgründiges Werk, das die große Themen der Menschheit – Gott, das Universum und unser Platz darin – aufgreift und auf expressive Weise verarbeitet. Es wirft Fragen auf, gibt keine direkten Antworten und lädt den Leser so zur Reflexion und zum Nachdenken ein.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Eine Theodicee“ ist Johann Gottfried Herder. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1763 zurück. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird die Epoche des Sturm und Drang auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Jugend- und Protestbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Schriftsteller im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die alten Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Zwei gegensätzliche Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt: die Aufklärung und eine gefühlsbetonte Strömung, die durch den Sturm und Drang vertreten wurde. Die Weimarer Klassik ist im Grund genommen eine Verschmelzung dieser beiden Elemente. Die Weimarer Klassik nahm ihren Anfang mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und endete mit dem Tod von Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1832. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum dieser Literaturepoche angesehen. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die essenziellen Themen. Die Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Lyrik haben die Dichter auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. So war beispielsweise die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders geschätzt. Des Weiteren verwendeten die Dichter eine pathetische, gehobene Sprache. Schiller, Goethe, Herder und Wieland können als die Hauptvertreter der Weimarer Klassik angesehen werden. Aber nur Goethe und Schiller motivierten und inspirierten einander durch enge Zusammenarbeit und wechselseitige Kritik.

Das vorliegende Gedicht umfasst 340 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 44 Versen. Weitere Werke des Dichters Johann Gottfried Herder sind „Das Kind der Sorge“, „Das Orakel“ und „Das Ross aus dem Berge“. Zum Autor des Gedichtes „Eine Theodicee“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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