Das Kind der Sorge von Johann Gottfried Herder

Einst saß am murmelnden Strome
Die Sorge nieder und sann:
Da bildet’ im Traum der Gedanken
Ihr Finger ein leimernes Bild.
 
„Was hast du, sinnende Göttinn?“
Spricht Zevs, der eben ihr naht.
„Ein Bild von Thone gebildet,
Beleb’s, ich bitte dich Gott.“
 
„Wohlan! ich will es! – Es lebet!
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Doch mein sei dieses Geschöpf!“ –
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Dagegen redet die Sorge:
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„Nein, laß es, laß es mir, Herr.
 
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Mein Finger hat es gebildet“ –
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„Und ich gab Leben dem Thon“
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Sprach Jupiter. Als sie so sprachen,
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Da trat auch Tellus hinan.
 
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„Mein ists! Sie hat mir genommen
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Von meinem Schooße das Kind.“
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„Wohlan, sprach Jupiter, harret,
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Dort kommt ein Entscheider, Saturn.“
 
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Saturn sprach: „Habet es alle!
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So wills das hohe Geschick.
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Du der das Leben ihm schenkte,
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Nimm, wenn es stirbet, den Geist.
 
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Du Tellus seine Gebeine:
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Denn mehr gehöret dir nicht.
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Dir, seiner Mutter, o Sorge,
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Wird es im Leben geschenkt.
 
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Du wirst, so lang’ es nur athmet,
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Es nie verlassen, dein Kind.
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Dir ähnlich wird es von Tage
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Zu Tage sich mühen ins Grab.“
 
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Des Schicksals Spruch ist erfüllet
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Und Mensch heißt dieses Geschöpf.
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Im Leben gehört es der Sorge:
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Der Erd’ im Sterben und Gott.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Das Kind der Sorge“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
194
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorgestellte Gedicht ist „Das Kind der Sorge“ von Johann Gottfried Herder, einem bedeutenden Dichter und Philosophen der deutschen Aufklärung und Sturm und Drang, der zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert wirkte. Das Gedicht lässt sich demnach zeitlich in das späte 18. Jahrhundert einordnen.

Beim ersten Lesen fällt die mythologische Rahmung auf, in der das Gedicht geprägt ist. Die zentralen Figuren sind griechische Gottheiten – Sorge, Zeus, Tellus und Saturn –, die um die Schöpfung und das Schicksal eines menschlichen Lebewesens debattieren.

Inhaltlich geht es um die Entstehung des Menschen. Die Göttin Sorge formt ein lehmernes Bild am Ufer eines Flusses, das Zeus Leben einverleibt. Es entsteht eine Auseinandersetzung darum, wem dieses neu geformte Geschöpf gehören sollte. Schließlich entscheidet Saturn, der Gott der Zeit und des Schicksals, dass sie alle das Geschöpf erhalten, aber auf unterschiedliche Weise: Zeus erhält den Geist, wenn der Mensch stirbt, Tellus, die Erdmutter, erhält seine sterblichen Überreste, und Sorge erhält sein Leben, während er lebt.

Formal besteht das Gedicht aus neun Strophen mit je vier Versen, die eine Art erzählende oder Balladenform aufweisen. Es kommt zu keinem Reimschema und die Metrik ist unregelmäßig, was eine freie Form widerspiegelt.

Die Sprache ist klassisch und formal, geprägt von altertümlichen Formulierungen und einer starken mythologischen Symbolik. Der Einsatz der mythischen Gottheiten vermittelt den universellen Charakter der Themen des Gedichts – Leben, Tod und Schicksal.

Die Botschaft des lyrischen Ichs scheint eine Reflexion über das menschliche Dasein und das damit verbundene Leid zu sein. Es zeigt, dass das Leben des Menschen unweigerlich mit Sorge, Mühe und schließlich mit dem Tod verbunden ist. Insofern verkörpert das Gedicht eine eher düstere und pessimistische Sicht auf die menschliche Existenz, eines der zentralen Themen der Literatur.

Zusammenfassend offenbart Herders „Kind der Sorge“ eine tiefgreifende Reflexion auf die menschliche Existenz und Zustand, indem er die mythologischen Gottheiten als Symbol für die universellen Aspekte von Geburt, Leben, Sorge und Tod heranzieht. Es ist eine düstere, nachdenkliche und doch aufschlussreiche Reise in die menschliche Natur und das unvermeidliche Schicksal eines jeden Menschen.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Das Kind der Sorge“. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. 1787 ist das Gedicht entstanden. Gotha ist der Erscheinungsort des Textes. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Auflehnen gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter waren meistens junge Autoren, zumeist nicht älter als 30 Jahre. Die Autoren versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Schiller, Goethe und natürlich die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Epoche der Klassik beginnt nach herrschender Auffassung mit der Italienreise Goethes, die er im Jahr 1786 im Alter von 36 Jahren machte. Das Ende der Epoche wird auf 1832 datiert. In der Klassik wurde die Literatur durch Einflüsse der Französischen Revolution, die ziemlich zu Beginn der Epoche stattfand, entscheidend geprägt. In der Französischen Revolution setzten sich die Menschen dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Der Begriff Humanität ist prägend für die Zeit der Weimarer Klassik. Die wichtigsten inhaltlichen Merkmale der Klassik sind: Harmonie, Selbstbestimmung, Menschlichkeit, Toleranz und die Schönheit. Typisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Die Dichter haben in der Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die bedeutendsten Dichter der Weimarer Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 9 Strophen und umfasst dabei 194 Worte. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Glück“, „Das Orakel“ und „Das Ross aus dem Berge“. Zum Autor des Gedichtes „Das Kind der Sorge“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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