Das Flüchtigste von Johann Gottfried Herder

Tadle nicht der Nachtigallen
Bald verhallend süßes Lied;
Sieh wie unter allen, allen
Lebensfreuden, die gefallen,
Stets zuerst die Schönste flieht.
 
Siehe wie im Tanz der Horen
Lenz und Morgen schnell entweicht;
Wie die Rose, mit Auroren
Zart im Silberthau gebohren,
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Auch Auroren gleich, erbleicht.
 
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Siehe, wie im Chor der Triebe
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Bald der Zärteste verklingt;
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Holdes Mitleid, Wahn der Liebe,
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Ach daß er uns ewig bliebe!
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Aber ach sein Zauber sinkt.
 
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Und die Frische dieser Wangen,
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Und der Jugend rege Glut
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Und die ahnenden Verlangen,
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Die am Wink der Hoffnung hangen;
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Ach ein fliehend, fliehend Gut!
 
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Selbst die Blüthe unsers Strebens,
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Aller Musen schönste Gunst,
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Jede höchste Kunst des Lebens,
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Freund, du fesselst sie vergebens;
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Sie entschlüpft, die Zauberkunst.
 
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Aus dem Meer der Götterfreuden
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Ward ein Tröpfchen uns geschenkt,
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Ward gemischt mit manchem Leiden,
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Leerer Ahnung, falschen Freuden,
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Ward im Nebelmeer ertränkt;
 
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Aber auch im Nebelmeere
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Ist der Tropfe Seligkeit;
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Einen Augenblick ihn trinken,
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Rein ihn trinken und versinken,
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Ist Genuß der Ewigkeit.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „Das Flüchtigste“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
35
Anzahl Wörter
163
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das Flüchtigste“ stammt von Johann Gottfried Herder, einem Dichter und Philosophen der Weimarer Klassik, der von 1744 bis 1803 lebte.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht melancholisch und wehmütig. Es thematisiert die Vergänglichkeit von Schönheit, Jugend, Liebe, den Musen und selbst der kunstvollen menschlichen Bestrebungen. Dies wird gleich in der ersten Zeile mit der Metapher der kurzzeitig singenden Nachtigall angekündigt: Ihre Schönheit ist flüchtig, wie die aller Dinge, die das lyrische Ich im Gedicht anschließend aufzählt. Zugleich wird diese Flüchtigkeit jedoch auch als etwas Wunderbares, Wertvolles dargestellt. Die Vergänglichkeit macht die Dinge erst wirklich schön, weil sie sie zu etwas Seltenem, Kostbarem macht.

Inhaltlich ist das lyrische Ich damit beschäftigt, dem Adressaten das prozesshafte und vergängliche Wesen des Lebens, der Schönheit und der Kunst nahezubringen: Themen, die typisch für die Dichtung der deutschen Romantik sind, zu der Herder gezählt wird. Es betont dabei die Unausweichlichkeit der Vergänglichkeit und die Bedeutung des Genusses des Momentes. Auch wenn Schönheit, Liebe und Tugenden flüchtige Güter sind, so sind sie doch kostbare Gaben, deren kurzfristiger Genuss einen Hauch von Ewigkeit beinhaltet.

Formal ist das Gedicht in sieben Strophen gegliedert, die jeweils aus fünf Versen bestehen. Diese symmetrische Struktur gibt dem Gedicht eine ruhige, fast meditative Atmosphäre. Die sprachlichen Bilder sind dabei oft von der Natur inspiriert: von Nachtigallen, Rosen, dem Frühling und Morgentau. Sie wechseln sich mit metaphorischen Bildern für menschliche Emotionen und Erfahrungen ab, wie „Holdes Mitleid“ oder „der Jugend rege Glut“. Dabei sind die Verse durchgehend reimlos, was dem Gedicht trotz der strengen formalen Struktur eine gewisse Leichtigkeit und natürliche Eleganz verleiht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Das Flüchtigste“ von Herder ein nachdenkliches und tiefgründiges Gedicht über die Vergänglichkeit und den flüchtigen Charakter des Lebens und der Schönheit ist, das in seiner melancholischen Grundstimmung jedoch auch eine Aufforderung zum Genuss und zur Wertschätzung der Augenblicke der Freude und Schönheit birgt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Das Flüchtigste“ ist Johann Gottfried Herder. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1787. Gotha ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Zwischen den Epochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren zwischen 1765 und 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Jugend- und Protestbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig junge Schriftsteller im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Zwei sich deutlich unterscheidende Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt: die Aufklärung und eine gefühlsbetonte Strömung, die durch den Sturm und Drang vertreten wurde. Die Weimarer Klassik ist im Grund genommen eine Verschmelzung dieser beiden Elemente. Die Weimarer Klassik nahm ihren Anfang mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und endete mit Goethes Tod im Jahr 1832. Das Zentrum der Literatur der Weimarer Klassik lag in Weimar. Oft wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Die Dichter der Klassik wollten die antiken Stoffe aufleben lassen. Mit der antiken Kunst beschäftigte sich Goethe während seiner Italienreise. Die Antike gilt nun als Ideal, um Harmonie und Vollkommenheit erreichen zu können. In der Gestaltung wurde das Gesetzmäßige, Wesentliche, Gültige aber auch die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache häufig derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die Hauptvertreter der Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Einen künstlerischen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Arbeit gab es jedoch nur zwischen Schiller und Goethe.

Das 163 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 35 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder sind „Das Orakel“, „Das Ross aus dem Berge“ und „Das Saitenspiel“. Zum Autor des Gedichtes „Das Flüchtigste“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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