An den Schlaf von Johann Gottfried Herder

Gott des Schlafes, Freund der Ruh,
Dessen dunkle Schwingen
Uns in sanftem, süßem Nu
Zu den Auen bringen,
Die ein schöner Licht erhellt,
Wo in einer andern Welt
Harmonieen klingen.
 
Freund der Menschen, holder Gott!
Unser halbes Leben
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Ward, dem Ungemach zum Spott,
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Deiner Hand gegeben.
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Und sie herrscht im Reich der Ruh;
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Purpurblumen lässest du
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Auf uns niederschweben.
 
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Schönbekränzter Jüngling, sei
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Sei auch mir willkommen,
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Der so oft dem Sklaven treu
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Seine Last entnommen,
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Der die Fessel ihm zerschlug
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Und durch neuen süssen Trug
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Sein Gemüth entglommen.
 
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Meiner Hoffnung Flügel hebt
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Sich nur noch in Träumen.
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Du der sie mit Muth belebt,
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Warum willt du säumen?
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Komm mit deiner süßen Macht:
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Laß, wie in der letzten Nacht,
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Mich Verwandlung träumen.
 
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Denn seit Psyche niedersank
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Aus des Himmels Auen,
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Sehnt sie sich Aeonenlang
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Wieder aufzuschauen;
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Und dem Flügel, den sie regt,
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Den sie, ach zerknickt! bewegt,
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Mag sie nimmer trauen.
 
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Holder Schlaf, mit Deinem Thau
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Heilst du ihre Schwingen,
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Muthig auf zur Lebensau
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In das Land zu dringen,
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Wo in reinem süßem Ton – –
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Augen sinkt! Ich höre schon
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Harmonieen klingen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „An den Schlaf“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
180
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „An den Schlaf“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem der bekanntesten Vertreter der Weimarer Klassik, welche zeitlich in die zweite Hälfte des 18. und erste Hälfte des 19. Jahrhunderts einzuordnen ist. Herder wird neben Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe zu den herausragendsten Dichtern dieser Epoche gezählt und ist auch als Philosoph, Theologe und Übersetzer von Bedeutung.

Beim ersten Lesen sticht das positive Bild des Schlafs, dem das lyrische Ich in einer Form des Gebets huldigt, hervor. Das Gedicht strahlt auf Anhieb eine beruhigende, heilende und fast mystische Atmosphäre aus, in der der Schlaf als personifizierte Macht des Lebens dargestellt wird, die schönen Träume und Heilung bringt.

Im inhaltlichen Überblick beschreibt das lyrische Ich den Schlaf als „Gott“ und „Freund der Ruh“, dessen Wirkungsweise den Menschen in eine andere, harmonische Welt versetzt, welche durch „schönes Licht“ und „Harmonien“ gekennzeichnet ist. Das lyrische Ich betont die Wichtigkeit des Schlafs für das menschliche Leben und preist ihn als einen Freund, der von den Sorgen befreit und neue Kraft spendet. Das Ich fleht den Schlaf an, es in die Welt der Träume zu entführen und ihm so Belebung und Verwandlung zu schenken. Es wird eine Sehnsucht nach Entrückung durch den Schlaf ausgedrückt, der Psyche aus dem Mythos als Symbol der Seele hinzugefügt wird. Schlussendlich wird der Schlaf in seiner heilenden Funktion hervorgehoben und der Wunsch geäußert, in den Schlaf und damit in die harmonische Traumwelt eintauchen zu können.

In Bezug auf die Form ist das Gedicht im siebenzeiligen Strophenrhythmus gestaltet, wobei alle Strophen ähnlich aufgebaut sind und den gleichen Abstraktionsgrad aufweisen. Diese Regelmäßigkeit trägt zur beruhigenden Atmosphäre des Gedichts bei. Dabei fallen die mehrfach vorkommenden Anreden („Gott des Schlafes, Freund der Ruh“, „Freund der Menschen, holder Gott“, „Schönbekränzter Jüngling“) auf, durch die der Schlaf konkretisiert und personalisiert wird.

Die Sprache des Gedichts ist lyrisch und metaphorisch und stellt Gefühle und Stimmungen in den Vordergrund. Dadurch wird der Transzendentheitscharakter des Schlafs hervorgehoben. Es werden zahlreiche Symbolik und Metaphern verwendet, um diese Wirkung zu verstärken. So steht der „purpurblumen“ für Ruhe und Harmonie, während „Psyche“ und „der Himmels Auen“ auf mythologische Motive verweisen und die mystisch-transzendentale Atmosphäre des Gedichts unterstreichen. Letztlich kann Herders Gedicht als eine tiefgründige Huldigung an den heilenden und erhebenden Charakter des Schlafes verstanden werden. Es zeigt die Wichtigkeit des Schlafes für das menschliche Sein, seine regenerative Kraft und seine Fähigkeit, den Menschen in eine andere, harmonische Welt zu entführen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An den Schlaf“ des Autors Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1787. Der Erscheinungsort ist Gotha. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Auflehnen gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Vorschein zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Schiller, Goethe und die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Literaturepoche der Klassik beginnt nach heutiger Auffassung mit der Italienreise Goethes, die er 1786 im Alter von 36 Jahren machte. Das Ende der Epoche wird auf 1832 datiert. In der Klassik wurde die Literatur durch Auswirkungen der Französischen Revolution, die ziemlich zu Beginn der Epoche stattfand, entscheidend geprägt. In der Französischen Revolution setzten sich die Menschen dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Zu den essenziellen Motiven der Weimarer Klassik gehören unter anderem Menschlichkeit und Toleranz. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik typisch. Während man in der Epoche des Sturm und Drangs die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die Hauptvertreter der Weimarer Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Einen künstlerischen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Arbeit gab es jedoch nur zwischen Schiller und Goethe.

Das Gedicht besteht aus 42 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 180 Worte. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Gesetz der Welten im Menschen“, „Das Glück“ und „Das Kind der Sorge“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „An den Schlaf“ weitere 413 Gedichte vor.

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