Rettende Insel von Joachim Ringelnatz

Wenn Parteien sich und Massen
Sichtbar und geräuschvoll hassen
Kling das mir wie Meeresrauschen.
Und dann mag ich henkelltrocken
Still auf einer Insel hocken,
Die mich zusehn läßt und lauschen.
 
Nicht, daß ich dann etwas schürfe
Oder was dazwischen würfe
Oder schlichten wollte, nein,
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Nein, ich weiß, das muß so sein.
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Und ich dehne mich und schlürfe
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Eingefangnen Sonnenschein.
 
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Wechselnd laut und wieder leise
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Rauscht das Meer in weitem Kreise
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Mir vertraute Melodie.
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Wo blind oder falsch gestempelt
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Mißklang sich an Mißklang rempelt,
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Windelt neue Harmonie.
 
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Und dann schwimmt – fast ist es schade –
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Noch ein Mensch an mein Gestade,
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Sucht an meiner Bulle halt.
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Aus ist die Robinsonade,
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Denn nach Insulanersitte
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Sag ich unwillkürlich: „bitte!“
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Und ein zweiter Pfropfen knallt.
 
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Und wir trinken. Es gesellen
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Andre sich dazu. Die Wellen
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Glätten sich. Der Haß zerstiebt.
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Bis zuletzt in süßer Ruhe
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Niemand noch was in die Schuhe
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Andrer schiebt,
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Und sich alles gegenseitig
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Eingehenkellt ganz unstreitig
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Duldet, gern hat oder liebt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Rettende Insel“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
34
Anzahl Wörter
160
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Rettende Insel“ stammt von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettisten. Ringelnatz, der von 1883 bis 1934 lebte, war ein Vertreter der literarischen Moderne und ist besonders für seine teils humorvollen, teils nachdenklichen Gedichte bekannt.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht von der Sehnsucht des lyrischen Ichs nach Einsamkeit und Rückzug zu handeln. Es spricht von Massen und Parteien, die „sich und Massen sichtbar und geräuschvoll hassen“, was wie Meeresrauschen klingt – ein Geräusch, das sowohl für Unruhe als auch für beruhigende Beständigkeit stehen kann. Die Antwort des lyrischen Ichs auf diesen Hass und Lärm ist Rückzug: Es möchte auf einer Insel sitzen, wo es zusehen und lauschen kann.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wird klar, dass das lyrische Ich sich nicht in ak-tive Konflikte einmischt, sondern abseits steht und die Situation beobachtet. Es „schürft“ nichts, „wirft“ nichts dazwischen und möchte auch nichts „schlichten“. Es akzeptiert, dass Konflikte und Unstimmigkeiten Teil des Lebens sind („das muss so sein“) und genießt stattdessen „eingefangenen Sonnenschein“ – ein Bild für Ruhe und Glück.

Diese Ruhe wird jedoch unterbrochen, wenn ein anderer Mensch an das „Gestade“ des lyrischen Ichs schwimmt. Sogleich endet die Robinsonade, die romantische Vorstellung vom einsamen Leben auf einer Insel. Anstatt den Eindringling abzuweisen, begrüßt das Ich ihn mit einem „bitte“. Damit beginnt eine Gemeinschaft, die von friedlichem Miteinander und Akzeptanz geprägt ist, ein Gegensatz zu der zuvor beschriebenen gesellschaftlichen Unruhe.

In Form und Sprache ist das Gedicht recht schlicht gehalten. Es besteht aus freien Versen mit unregelmäßigem Reimschema. Einige Verse kommen ohne direkten Reim aus, was den Eindruck von spontanen, freien Gedanken unterstützt. Die Sprache ist mal metaphorisch („Meeresrauschen“, „eingefangenen Sonnenschein“), mal direkt und alltäglich („Parteien“, „Massen“). Insgesamt erzeugt das Gedicht eine Atmosphäre von Ruhe und Ausgeglichenheit, die der Unruhe und dem Lärm der Gesellschaft entgegensteht.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Rettende Insel“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Joachim Ringelnatz. Der Autor Joachim Ringelnatz wurde 1883 in Wurzen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1928 zurück. In Berlin ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 160 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 34 Versen. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „Abendgebet einer erkälteten Negerin“, „Abermals in Zwickau“ und „Abgesehen von der Profitlüge“. Zum Autor des Gedichtes „Rettende Insel“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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