Abdallah von Adelbert von Chamisso

Abdallah liegt behaglich am Quell der Wüste und ruht,
Es weiden um ihn die Kamele, die achtzig, sein ganzes Gut;
Er hat mit Kaufmannswaren Balsora glücklich erreicht,
Bagdad zurück zu gewinnen, wird ledig die Reise ihm leicht.
 
Da kommt zur selben Quelle, zu Fuß am Wanderstab,
Ein Derwisch ihm entgegen den Weg von Bagdad herab.
Sie grüßen einander, sie setzen beisammen sich zum Mahl,
Und loben den Trunk der Quelle, und loben Allah zumal.
 
Sie haben um ihre Reise teilnehmend einander befragt,
10 
Was jeder verlangt zu wissen, willfährig einander gesagt,
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Sie haben einander erzählet von dem und jenem Ort,
12 
Da spricht zuletzt der Derwisch ein gar bedächtig Wort:
 
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»Ich weiß in dieser Gegend, und kenne wohl den Platz,
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Und könnte dahin dich führen, den unermeßlichsten Schatz.
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Man möchte daraus belasten mit Gold und Edelgestein
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Wohl achtzig, wohl tausend Kamele, es würde zu merken nicht sein.«
 
17 
Abdallah lauscht betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz,
18 
Es rieselt ihm kalt durch die Adern und Gier erfüllt ihn ganz:
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»Mein Bruder, hör, mein Bruder, o führe dahin mich gleich!
20 
Dir kann der Schatz nicht nützen, du machst mich glücklich und reich.
 
21 
Laß dort mit Gold uns beladen die achtzig Kamele mein,
22 
Nur achtzig Kameleslasten, es wird zu merken nicht sein.
23 
Und dir, mein Bruder, verheiß ich, zu deines Dienstes Sold,
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Das beste von allen, das stärkste, mit seiner Last von Gold.«
 
25 
Darauf der Derwisch: »Mein Bruder, ich hab es anders gemeint,
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Dir vierzig Kamele, mir vierzig, das ist, was billig mir scheint,
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Den Wert der vierzig Tiere empfängst du millionenfach,
28 
Und hätt ich geschwiegen, mein Bruder, o denke, mein Bruder, doch nach.«
 
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»Wohlan, wohlan, mein Bruder, laß gleich uns ziehen dahin,
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Wir teilen gleich die Kamele, wir teilen gleich den Gewinn.«
31 
Er sprach's, doch taten ihm heimlich die vierzig Lasten leid,
32 
Dem Geiz in seinem Herzen gesellte sich der Neid.
 
33 
Und so erhoben die beiden vom Lager sich ohne Verzug,
34 
Abdallah treibt die Kamele, der Derwisch leitet den Zug.
35 
Sie kommen zu den Hügeln; dort öffnet, eng und schmal,
36 
Sich eine Schlucht zum Eingang in ein geräumig Tal.
 
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Schroff, überhangend umschließet die Felswand rings den Raum,
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Noch drang in diese Wildnis des Menschen Fuß wohl kaum.
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Sie halten; bei den Tieren Abdallah sich verweilt,
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Der sie, der Last gewärtig, in zwei Gefolge verteilt.
 
41 
Indessen häuft der Derwisch am Fuß der Felsenwand
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Verdorrtes Gras und Reisig und steckt den Haufen in Brand;
43 
Er wirft, so wie die Flamme sich prasselnd erhebt, hinein
44 
Mit seltsamem Tun und Reden viel kräftige Spezerein.
 
45 
In Wirbeln wallt der Rauch auf, verfinsternd schier den Tag,
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Die Erde bebt, es dröhnet ein starker Donnerschlag,
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Die Finsternis entweichet, der Tag bricht neu hervor,
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Es zeigt sich in dem Felsen ein weitgeöffnet Tor.
 
49 
Es führt in prächtige Hallen, wie nimmer ein Aug sie geschaut,
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Aus Edelgestein und Metallen von Geistern der Tiefen erbaut,
51 
Es tragen goldne Pilaster ein hohes Gewölb von Krystall,
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Hellfunkelnde Karfunkeln verbreiten Licht überall.
 
53 
Es lieget zwischen den goldnen Pilastern, unerhört,
54 
Das Gold hoch aufgespeichert, des Glanz den Menschen betört,
55 
Es wechseln mit den Haufen des Goldes, die Hallen entlang,
56 
Demanten, Smaragden, Rubinen, dazwischen nur schmal der Gang.
 
57 
Abdallah schaut's betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz,
58 
Es rieselt ihm kalt durch die Adern und Gier erfüllt ihn ganz.
59 
Sie schreiten zum Werke; der Derwisch hat klug sich Demanten erwählt,
60 
Abdallah wühlet im Golde, im Golde, das nur ihn beseelt.
 
61 
Doch bald begreift er den Irrtum und wechselt die Last und tauscht
62 
Für Edelgestein und Demanten das Gold, des Glanz ihn berauscht,
63 
Und was er fort zu tragen die Kraft hat, minder ihn freut,
64 
Als was er liegen muß lassen, ihn heimlich wurmt und reut.
 
65 
Geladen sind die Kamele, schier über ihre Kraft,
66 
Abdallah sieht mit Staunen, was ferner der Derwisch schafft.
67 
Der geht den Gang zu Ende und öffnet eine Truh,
68 
Und nimmt daraus ein Büchschen, und schlägt den Deckel zu.
 
69 
Es ist von schlichtem Holze und was darin verwahrt,
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Gleich wertlos, scheint nur Salbe, womit man salbt den Bart;
71 
Er hat es prüfend betrachtet, das war das rechte Geschmeid,
72 
Er steckt es wohlgefällig in sein gefaltet Kleid.
 
73 
Drauf schreiten hinaus die beiden und draußen auf dem Plan
74 
Vollbringt der Derwisch die Bräuche, wie er's beim Eintritt getan;
75 
Der Schatz verschließt sich donnernd, ein jeder übernimmt
76 
Die Hälfte der Kamele, die ihm das Los bestimmt.
 
77 
Sie brechen auf und wallen zum Quell der Wüste vereint,
78 
Wo sich die Straßen trennen, die jeder zu nehmen meint;
79 
Dort scheiden sie und geben einander den Bruderkuß;
80 
Abdallah erzeigt sich erkenntlich mit tönender Worte Erguß.
 
81 
Doch, wie er abwärts treibet, schwillt Neid in seiner Brust,
82 
Des andern vierzig Lasten, sie dünken ihn eigner Verlust:
83 
Ein Derwisch, solche Schätze, die eignen Kamele, - das kränkt
84 
Und was bedarf der Schätze, wer nur an Allah denkt?
 
85 
»Mein Bruder, hör mein Bruder!« - so folgt er seiner Spur
86 
»Nicht um den eignen Vorteil, ich denk an deinen nur,
87 
Du weißt nicht, welche Sorgen und weißt nicht, welche Last
88 
Du, Guter, an vierzig Kamelen dir aufgebürdet hast.
 
89 
Noch kennst du nicht die Tücke, die in den Tieren wohnt,
90 
O glaub es mir, der Mühen von Jugend auf gewohnt,
91 
Versuch ich's wohl mit achtzig, dir wird's mit vierzig zu schwer,
92 
Du führst vielleicht noch dreißig, doch vierzig nimmermehr.«
 
93 
Darauf der Derwisch: »Ich glaube, daß Recht du haben magst,
94 
Schon dacht ich bei mir selber, was du, mein Bruder, mir sagst.
95 
Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kamelen noch zehn,
96 
Du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn.«
 
97 
Abdallah dankt und scheidet und denkt in seiner Gier:
98 
Und wenn ich zwanzig begehrte, der Tor, er gäbe sie mir.
99 
Er kehrt zurück im Laufe, es muß versuchet sein,
100 
Er ruft, ihn hört der Derwisch und harret gelassen sein.
 
101 
»Mein Bruder, hör, mein Bruder, o traue meinem Wort,
102 
Du kommst, unkundig der Wartung, mit dreißig Kamelen nicht fort,
103 
Die widerspenstigen Tiere sind störriger, denn du denkst,
104 
Du machst es dir bequemer, wenn du mir zehen noch schenkst.«
 
105 
Darauf der Derwisch: »Ich glaube, daß Recht du haben magst,
106 
Schon dacht ich bei mir selber, was du, mein Bruder, mir sagst.
107 
Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kamelen noch zehn,
108 
Du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn.«
 
109 
Und wie so leicht gewähret, was kaum er sich gedacht,
110 
Da ist in seinem Herzen erst recht die Gier erwacht;
111 
Er hört nicht auf, er fodert, wohl ohne sich zu scheun,
112 
Noch zehen von den zwanzig und von den zehen neun.
 
113 
Das eine nur, das letzte, dem Derwisch übrig bleibt,
114 
Noch dies ihm abzufodern des Herzens Gier ihn treibt;
115 
Er wirft sich ihm zu Füßen, umfasset seine Knie:
116 
»Du wirst nicht nein mir sagen, noch sagtest du nein mir nie.«
 
117 
»So nimm das Tier, mein Bruder, wonach dein Herz begehrt,
118 
Es ist, daß trauernd du scheidest von deinem Bruder, nicht wert.
119 
Sei fromm und weis im Reichtum, und beuge vor Allah dein Haupt,
120 
Der, wie er Schätze spendet, auch Schätze wieder raubt.«
 
121 
Abdallah dankt und scheidet und denkt in seinem Sinn:
122 
Wie mochte der Tor verscherzen so leicht den reichen Gewinn?
123 
Da fällt ihm ein das Büchschen: das ist das rechte Geschmeid,
124 
Wie barg er's wohlgefällig in sein gefaltet Kleid!
 
125 
Er kehrt zurück: »Mein Bruder, mein Bruder! auf ein Wort,
126 
Was nimmst du doch das Büchschen, das schlechte, mir dir noch fort?
127 
Was soll dem frommen Derwisch der weltlich eitle Tand?«
128 
»So nimm es«, spricht der Derwisch und legt es in seine Hand.
 
129 
Ein freudiges Erschrecken den Zitternden befällt,
130 
Wie er auch noch das Büchschen, das rätselhafte, hält;
131 
Er spricht kaum dankend weiter: »So lehre mich nun auch,
132 
Was hat denn diese Salbe für einen besondern Gebrauch?«
 
133 
Der Derwisch: »Groß ist Allah, die Salbe wunderbar.
134 
Bestreichst du dein linkes Auge damit, durchschauest du klar
135 
Die Schätze, die schlummernden alle, die unter der Erde sind;
136 
Bestreichst du dein rechtes Auge, so wirst du auf beiden blind.«
 
137 
Und selber zu versuchen die Tugend, die er kennt,
138 
Der wunderbaren Salbe, Abdallah nun entbrennt:
139 
»Mein Bruder, hör, mein Bruder, du machst es besser, traun!
140 
Bestreiche mein Auge, das linke, und laß die Schätze mich schaun.«
 
141 
Willfährig tut's der Derwisch, da schaut er unterwärts
142 
Das Gold in Kammern und Adern, das gleißende, schimmernde Erz;
143 
Demanten, Smaragden, Rubinen, Metall und Edelgestein,
144 
Sie schlummern unten und leuchten mit seltsam lockendem Schein.
 
145 
Er schaut's und starrt betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz,
146 
Es rieselt ihm kalt durch die Adern und Gier erfüllt ihn ganz.
147 
Er denkt: würd auch bestrichen mein rechtes Auge zugleich,
148 
Vielleicht besäß ich die Schätze und würd unermeßlich reich.
 
149 
»Mein Bruder, hör, mein Bruder, zum letzten Mal mich an,
150 
Bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke getan,
151 
Noch diese meine Bitte, die letzte, gewähre du mir,
152 
Dann scheiden unsere Wege und Allah sei mit dir.«
 
153 
Darauf der Derwisch: »Mein Bruder, nur Wahrheit sprach mein Mund,
154 
Ich mache dir die Kräfte von deiner Salbe kund.
155 
Ich will, nach allem Guten, das ich dir schon erwies,
156 
Die strafende Hand nicht werden, die dich ins Elend stieß.«
 
157 
Nun hält er fest am Glauben und brennt vor Ungeduld,
158 
Den Neid, die Schuld des Herzens, gibt er dem Derwisch schuld,
159 
Daß dieser so sich weigert, das ist für ihn der Sporn,
160 
Der Gier in seinem Herzen gesellet sich der Zorn.
 
161 
Er spricht mit höhnischem Lachen: »Du hältst mich für ein Kind;
162 
Was sehend auf einem Auge, macht nicht auf dem andern mich blind,
163 
Bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke getan,
164 
Und wisse, daß, falls du mich reizest, Gewalt ich brauchen kann.«
 
165 
Und wie er noch der Drohung die Tat hinzugefügt,
166 
Da hat der Derwisch endlich stillschweigend ihm genügt,
167 
Er nimmt zur Hand die Salbe, sein rechtes Aug er bestreicht
168 
Die Nacht ist angebrochen, die keinem Morgen weicht.
 
169 
»O Derwisch, arger Derwisch, du doch die Wahrheit sprachst,
170 
Nun heile, kenntnisreicher, was selber du verbrachst.«
171 
»Ich habe nichts verbrochen, dir ward, was du gewollt,
172 
Du stehst in Allahs Händen, der alle Schulden zollt.«
 
173 
Er fleht und schreit vergebens und wälzet sich im Staub,
174 
Der Derwisch abgewendet bleibt seinen Klagen taub;
175 
Der sammelt die achtzig Kamele und gen Balsora treibt,
176 
Derweil Abdallah verzweifelnd am Quell der Wüste verbleibt.
 
177 
Die nicht er schaut, die Sonne vollbringet ihren Lauf,
178 
Sie ging am andern Morgen, am dritten wieder auf,
179 
Noch lag er da verschmachtend; ein Kaufmann endlich kam,
180 
Der nach Bagdad aus Mitleid den blinden Bettler nahm.

Details zum Gedicht „Abdallah“

Anzahl Strophen
45
Anzahl Verse
180
Anzahl Wörter
1710
Entstehungsjahr
1781 - 1838
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Abdallah“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Adelbert von Chamisso. Im Jahr 1781 wurde Chamisso geboren. Zwischen den Jahren 1797 und 1838 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Chamisso handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein dauerte die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik an. Ihre Auswirkungen waren in der Literatur, der Kunst aber auch der Musik und Philosophie spürbar. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Literaturepoche der Romantik entstand in Folge politischer Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche. Im gesamten Europa fand ein Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft statt. Gleichermaßen bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein heraus. Industrialisierung und technologischer Fortschritt sind prägend für diese Zeit. Die zentralen Motive der Romantik sind das Schaurige, Leidenschaftliche, Unterbewusste, Fantastische, Individuelle, Gefühlvolle und Abenteuerliche, welche die Grenzen des Verstandes sprengen und erweitern sollen und sich gegen das bloße Nützlichkeitsdenken sowie die Industrialisierung richten. Die romantischen Dichter sehnen sich nach der Einheit von Geist und Natur. Ein Hinwenden zum Mittelalter ist erkennbar. So werden Kunst und Architektur dieser vergangenen Zeit geschätzt. Die Missstände dieser Zeit bleiben jedoch unerwähnt. Strebte die Klassik nach harmonischer Vollendung und Klarheit der Gedanken, so ist die Romantik von einer an den Barock erinnernden Maß- und Regellosigkeit geprägt. Die Romantik begreift die schöpferische Phantasie des Künstlers als unendlich. Zwar baut sie dabei auf die Errungenschaften der Klassik auf. Deren Ziele und Regeln möchte sie aber hinter sich lassen.

Das 1710 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 180 Versen mit insgesamt 45 Strophen. Die Gedichte „Die Löwenbraut“, „Zweites Lied von der alten Waschfrau“ und „Die alte Waschfrau“ sind weitere Werke des Autors Adelbert von Chamisso. Zum Autor des Gedichtes „Abdallah“ haben wir auf abi-pur.de weitere 146 Gedichte veröffentlicht.

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