Die Sonne bringt es an den Tag von Adelbert von Chamisso

Gemächlich in der Werkstatt saß
Zum Frühtrunk Meister Nikolas,
Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein,
Es war im heitern Sonnenschein.
Die Sonne bringt es an den Tag.
 
Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
Malt zitternde Kringeln an die Wand,
Und wie den Schein er ins Auge faßt,
So spricht er für sich, indem er erblaßt:
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»Du bringst es doch nicht an den Tag.«
 
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»Wer nicht? was nicht?« die Frau fragt gleich,
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»Was stierst du so an? was wirst du so bleich?«
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Und er darauf: »Sei still, nur still;
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Ich's doch nicht sagen kann, noch will.
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Die Sonne bringt's nicht an den Tag.«
 
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Die Frau nur dringender forscht und fragt,
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Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt,
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Mit süßem und mit bitterm Wort,
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Sie fragt und plagt ihn fort und fort:
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»Was bringt die Sonne nicht an den Tag?«
 
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»Nein, nimmermehr!« - »Du sagst es mir noch.«
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»Ich sag es nicht.« - »Du sagst es mir doch.«
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Da ward zuletzt er müd und schwach,
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Und gab der Ungestümen nach.
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Die Sonne bringt es an den Tag.
 
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»Auf der Wanderschaft, 's sind zwanzig Jahr,
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Da traf es mich einst gar sonderbar,
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Ich hatt nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh',
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War hungrig und durstig und zornig dazu.
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Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
 
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Da kam mir just ein Jud in die Quer,
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Ringsher war's still und menschenleer:
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Du hilfst mir, Hund, aus meiner Not;
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Den Beutel her, sonst schlag ich dich tot!
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Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
 
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Und er: Vergieße nicht mein Blut,
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Acht Pfennige sind mein ganzes Gut!
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Ich glaubt ihm nicht, und fiel ihn an;
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Er war ein alter, schwacher Mann
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Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
 
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So rücklings lag er blutend da,
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Sein brechendes Aug in die Sonne sah;
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Noch hob er zuckend die Hand empor,
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Noch schrie er röchelnd mir ins Ohr:
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Die Sonne bringt es an den Tag.
 
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Ich macht ihn schnell noch vollends stumm,
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Und kehrt ihm die Taschen um und um:
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Acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld.
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Ich scharrt ihn ein auf selbigem Feld
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Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
 
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Dann zog ich weit und weiter hinaus,
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Kam hier ins Land, bin jetzt zu Haus.
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Du weißt nun meine Heimlichkeit,
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So halte den Mund und sei gescheit;
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Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
 
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Wann aber sie so flimmernd scheint,
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Ich merk es wohl, was sie da meint,
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Wie sie sich müht und sich erbost,
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Du, schau nicht hin, und sei getrost:
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Sie bringt es doch nicht an den Tag.«
 
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So hatte die Sonn eine Zunge nun,
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Der Frauen Zungen ja nimmer ruhn.
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Gevatterin, um Jesus Christ!
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Laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt.
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Nun bringt's die Sonne an den Tag.
 
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Die Raben ziehen krächzend zumal
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Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
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Wen flechten sie aufs Rad zur Stund?
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Was hat er getan? wie ward es kund?
70 
Die Sonne bracht es an den Tag.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.8 KB)

Details zum Gedicht „Die Sonne bringt es an den Tag“

Anzahl Strophen
14
Anzahl Verse
70
Anzahl Wörter
486
Entstehungsjahr
1781 - 1838
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht heißt „Die Sonne bringt es an den Tag“ und wurde von Adelbert von Chamisso verfasst, einem deutsch-französischen Dichter und Botaniker aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Chamisso war ein Vertreter der deutschen Romantik.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie eine Art erzählende Ballade, welche von einer geheimen Schuld erzählt, die im Rahmen einer schicksalshaften Begegnung nach Jahre später ans Licht kommt.

Das Gedicht handelt von einem Mann namens Nikolas, der seiner Frau, nach hartnäckigem Fragen, gesteht, vor 20 Jahren einen Juden beraubt und getötet zu haben. Nun lebt er in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Er beteuert, dass die Sonne, das Sinnbild für Wahrheit und Offenlegung, es dennoch nicht „an den Tag bringen“ wird. Doch seine Frau kann dieses Geheimnis nicht für sich behalten und so wird es öffentlich, was zu seiner Hinrichtung führt.

Es wird impliziert, dass das lyrische Ich stets unter der Last seiner Tat gelebt hat und diese Last und Schuld ihm ununterbrochen, wie die Sonne, vor Augen gestanden hat. Der Schlüsselsatz des Gedichts „Die Sonne bringt es an den Tag“ ist gleichzeitig eine immer wiederkehrende Warnung und Sentenz vor dem unfreiwilligen Beichten eines Geheimnisses.

Dieses Gedicht ist in 14 Strophen mit je fünf Versen aufgeteilt, also insgesamt in einem recht strengen, klassischen Versmaß verfasst. Der Rhythmus und die Reime tragen zu einem fließenden Erzählfluss bei, wodurch die Geschichte auf elegante Weise fortschreitet. Die Sprache ist schlicht und verständlich, um die Geschichte und die moralische Lektion klar hervorzuheben.

Zusammengefasst handelt das Gedicht von der unausweichlichen Konsequenz seiner Taten. Die verborgene Schuld und die unaufhörliche Angst vor der Entdeckung wird durch die Metapher der Sonne symbolisiert. Obwohl das lyrische Ich versucht, sein Verbrechen zu leugnen und zu verbergen, führt seine eigene Schuld schließlich zu seiner Entdeckung und Strafe. Die moralische Botschaft ist, dass man letztendlich immer für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird und dass die Wahrheit immer ans Licht kommt, symbolisiert durch die Sonne.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die Sonne bringt es an den Tag“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Adelbert von Chamisso. Geboren wurde Chamisso im Jahr 1781 . Im Zeitraum zwischen 1797 und 1838 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Chamisso handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hineinreichte. Insbesondere in den Bereichen der Literatur, Musik oder der bildenden Kunst hatte diese Epoche umfangreiche Auswirkungen. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Welt, die sich durch die beginnende Industrialisierung und Verstädterung mehr und mehr veränderte, verunsicherte die Menschen. Die Französische Revolution in den Jahren 1789 bis 1799 hatte ebenfalls bedeutende Auswirkungen auf die Romantik. Weltflucht, Hinwendung zur Natur, Verklärung des Mittelalters (damalige Kunst und Architektur wurde nun wieder geschätzt), Rückzug in Fantasie- und Traumwelten, Betonung des Individuums und romantische Ironie sind typische Merkmale der Romantik. Die Themen der Romantik zeigen sich in verschiedenen Motiven und Symbolen. So gilt beispielsweise die Blaue Blume als das zentrale Motiv der romantischen Literatur. Sie symbolisiert Sehnsucht und Liebe und verbindet Natur, Mensch und Geist. Die Nacht hat ebenfalls eine besondere Bedeutung in der Romantik. Sie ist der Schauplatz für zahlreiche weitere Motive dieser Epoche: Vergänglichkeit, Tod und nicht alltägliche, obskure Phänomene. Im ebenfalls in dieser Epoche zu findenden Spiegelmotiv zeigt sich die Hinwendung der Romantik zum Unheimlichen. Die Romantik stellt die Freiheit der Phantasie sowohl über die Form als auch über den Inhalt des Werkes. Eine Konsequenz daraus ist ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Lyrik und Epik. Die starren Regeln und Ziele der Klassik werden in der Romantik zurückgelassen. Eine gewisse Maß- und Regellosigkeit in den Werken ist zu beobachten.

Das vorliegende Gedicht umfasst 486 Wörter. Es baut sich aus 14 Strophen auf und besteht aus 70 Versen. Adelbert von Chamisso ist auch der Autor für Gedichte wie „Die Löwenbraut“, „Zweites Lied von der alten Waschfrau“ und „Die alte Waschfrau“. Zum Autor des Gedichtes „Die Sonne bringt es an den Tag“ haben wir auf abi-pur.de weitere 146 Gedichte veröffentlicht.

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