Die Kreuzschau von Adelbert von Chamisso

Der Pilger, der die Höhen überstiegen,
Sah jenseits schon das ausgespannte Tal
In Abendglut vor seinen Füßen liegen.
Auf duftges Gras, im milden Sonnenstrahl
Streckt er ermattet sich zur Ruhe nieder,
Indem er seinem Schöpfer sich befahl.
Ihm fielen zu die matten Augenlider,
Doch seinen wachen Geist enthob ein Traum
Der ird’schen Hülle seiner trägen Glieder.
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Der Schild der Sonne ward im Himmelsraum
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Zu Gottes Angesicht, das Firmament
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Zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum.
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„Du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt,
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Nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden.
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Wenn seine Schwächen er vor dir bekennt.
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Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden
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Auch duldend tragen muß, ich weiß es lange,
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Doch sind der Menschen Last und Leid verschieden.
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Mein Kreuz ist allzu schwer; sieh’, ich verlange
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Die Last nur angemessen meiner Kraft;
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Ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange.“
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Wie er so sprach zum Höchsten kinderhaft,
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Kam brausend her der Sturm, und es geschah,
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Daß aufwärts er sich fühlte hingerafft.
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Und wie er Boden faßte, fand er da
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Sich einsam in der Mitte räum’ger Hallen,
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Wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah.
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Und eine Stimme hört’ er dröhnend hallen:
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Hier aufgespeichert ist das Leid; du hast
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Zu wählen unter diesen Kreuzen allen.
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Versuchend ging er da, unschlüssig fast,
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Von einem Kreuz zum anderen umher,
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Sich auszuprüfen die bequemre Last.
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Dies Kreuz war ihm zu groß und das zu schwer,
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So schwer und groß war jenes andere nicht,
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Doch scharf von Kanten, drückt’ es desto mehr,
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Das dort, das warf wie Gold ein gleißend Licht,
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Das lockt’ ihn, unversucht es nicht zu lassen;
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Dem goldnen Glanz entsprach auch das Gewicht.
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Er mochte dieses heben, jenes fassen,
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Zu keinem neigte noch sich seine Wahl,
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Es wollte keines, keines für ihn passen.
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Durchmustert hatt’ er schon die ganze Zahl –
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Verlorene Müh! Vergebens war’s geschehen!
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Durchmustern mußt’ er sie zum andernmal.
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Und nun gewahrt’ er, früher übersehen,
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Ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein,
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Und bei dem einen blieb er endlich stehen.
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Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein
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Ihm paßlich und gerecht nach Kraft und Maß:
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Herr, rief er, so du willst, dies Kreuz sei mein!
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Und wie er’s prüfend mit den Augen maß –
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Es war dasselbe, das er sonst getragen,
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Wogegen er zu murren sich vermaß.
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Er lud es auf und trug’s nun sonder Klagen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28 KB)

Details zum Gedicht „Die Kreuzschau“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
55
Anzahl Wörter
391
Entstehungsjahr
1834
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Kreuzschau“ stammt von Adelbert von Chamisso, der am 30. Januar 1781 geboren wurde und am 21. August 1838 verstarb. Chamisso war ein deutscher Dichter, der vor allem als Lyriker und Reiseschriftsteller bekannt war. Das Gedicht kann zeitlich nicht genau eingeordnet werden, da es keine spezifischen Hinweise auf eine bestimmte Epoche oder historische Ereignisse gibt.

Beim ersten Lesen des Gedichts entsteht der Eindruck, dass es sich um einen spirituellen Text handelt. Der Titel „Die Kreuzschau“ weckt Assoziationen mit religiösen Motiven und lässt vermuten, dass es in dem Gedicht um die Auseinandersetzung mit dem Leid und dem Glauben geht.

Der Inhalt des Gedichts erzählt die Geschichte eines Pilgers, der auf einer spirituellen Reise ist. Er sieht ein Tal vor sich, legt sich auf den Boden nieder und fällt in einen Traum. In diesem Traum sieht er den Himmel als das Angesicht Gottes und das Land als dessen Gewand. In diesem Traum bittet er Gott um Frieden und spricht darüber, dass er das Kreuz, das er trägt, als zu schwer empfindet. Plötzlich wird er vom Sturm erfasst und findet sich in einer Halle voller Kreuze wieder. Eine Stimme sagt ihm, dass er unter all den Kreuzen wählen soll. Er geht von Kreuz zu Kreuz und findet eines, das ihm geeignet erscheint. Es ist schlicht, aber passend für seine Kraft und Größe. Er entscheidet sich dafür und trägt es ohne zu klagen.

Das lyrische Ich möchte in diesem Gedicht vermutlich ausdrücken, dass jeder Mensch sein eigenes Leid trägt, und dass das eigene Kreuz nicht unbedingt das schwerste oder größte sein muss. Es geht um die Anerkennung und Akzeptanz des eigenen Leidens und die Bereitschaft, es anzunehmen und zu tragen.

Das Gedicht besteht aus einer Strophe mit 55 Versen. Chamisso verwendet eine klassische Reimform (umschließender Reim) mit einem Metrum von vier Hebungen (Jambus). Die Sprache ist poetisch und bildhaft. Es werden metaphorische Beschreibungen wie „Schild der Sonne“ und „Gottes Angesicht“ verwendet, um spirituelle und emotionale Zustände darzustellen. Chamisso verwendet auch viele Adjektive, um die Gefühle und Empfindungen des lyrischen Ichs zu verdeutlichen. Die Sprache ist insgesamt malerisch und gut strukturiert.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Kreuzschau“ des Autors Adelbert von Chamisso. Im Jahr 1781 wurde Chamisso geboren. Im Jahr 1834 ist das Gedicht entstanden. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Der Schriftsteller Chamisso ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik war eine Epoche der europäischen Literatur, Kunst und Kultur. Sie begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts und dauerte in der Literatur bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis in das Jahr 1804 hinein spricht man in der Literatur von der Frühromantik, bis 1815 von der Hochromantik und bis 1848 von der Spätromantik. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt im Allgemeinen als wissenschaftlich und aufstrebend, was hier vor allem durch die einsetzende Industrialisierung deutlich wird. Die damalige Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Diese Entwicklung war den Romantikern zuwider. Sie stellten sich in ihren Schriften gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. Wesentliche Motive in der Lyrik der Romantik sind die Ferne und Sehnsucht sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Weitere Motive sind das Fernweh, das Nachtmotiv oder die Todessehnsucht. So symbolisierte die Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das Mysteriöse, Geheimnisvolle und galt als Ursprung der Liebe. Merkmale der Romantik sind die Hinwendung zur Natur, die Weltflucht oder der Rückzug in Traumwelten. Insbesondere ist aber auch die Idealisierung des Mittelalters aufzuzeigen. Architektur und Kunst des Mittelalters wurden von den Romantikern wieder geschätzt. Die Romantik stellt die Freiheit der Phantasie sowohl über die Form als auch über den Inhalt des Werkes. Eine Konsequenz daraus ist ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Lyrik und Epik. Die festen Regeln und Ziele der Klassik werden in der Romantik zurückgelassen. Eine gewisse Maß- und Regellosigkeit in den Werken ist zu beobachten.

Das vorliegende Gedicht umfasst 391 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 55 Versen. Adelbert von Chamisso ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Spielmann“, „Helft mir, ihr Schwestern“ und „Du Ring an meinem Finger“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Kreuzschau“ weitere 146 Gedichte vor.

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