Zweites Lied von der alten Waschfrau von Adelbert von Chamisso

Es hat euch anzuhören wohl behagt,
Was ich von meiner Waschfrau euch gesagt;
Ihr habt's für eine Fabel wohl gehalten?
Fürwahr, mir selbst erscheint sie fabelhaft;
Der Tod hat längst sie alle hingerafft,
Die jung zugleich gewesen mit den Alten.
 
Dies werdende Geschlecht, es kennt sie nicht
Und geht an ihr vorüber ohne Pflicht
Und ohne Lust, sich ihrer zu erbarmen.
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Sie steht allein. Der Arbeit zu gewohnt,
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Hat sie, solang' es ging, sich nicht geschont;
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Jetzt aber, wehe der vergess'nen Armen!
 
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Jetzt drückt darnieder sie der Jahre Last;
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Noch emsig thätig, doch entkräftet fast
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Gesteht sie ein: "So kann's nicht lange währen.
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Mag's werden, wie's der liebe Gott bestimmt;
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Wenn er nicht gnädig bald mich zu sich nimmt,
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Nicht schafft's die Hand mehr - muss er mich ernähren."
 
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Solang' sie rüstig noch beim Waschtrog stand,
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War für den Dürst'gen offen ihre Hand;
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Da mochte sie nicht rechnen und nicht sparen.
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Sie dachte bloß: "Ich weiß, wie Hunger thut."
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Vor eure Füsse leg' ich meinen Hut,
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Sie selber ist im Betteln unerfahren.
 
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Ihr Fraun und Herrn, Gott lohn' es euch zumal,
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Er geb' euch dieses Weibes Jahre Zahl
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Und spät dereinst ein gleiches Sterbekissen!
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Denn wohl vor allem, was man Güter heißt,
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Sind's diese beiden, die man billig preist:
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Ein hohes Alter und ein rein Gewissen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Zweites Lied von der alten Waschfrau“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
216
Entstehungsjahr
1781 - 1838
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht, das wir hier interpretieren, ist „Zweites Lied von der alten Waschfrau“ von Adelbert von Chamisso. Chamisso war ein Dichter der Romantik, der von 1781 bis 1838 lebte, und das Gedicht kann somit dieser Epoche zugeordnet werden.

Beim ersten Lesen des Gedichtes fällt auf, dass es sehr gesellschaftskritisch ist und einen melancholischen Unterton hat. Es handelt von einer alten Waschfrau, für die niemand mehr Zeit oder Verständnis hat.

In dem Gedicht geht es um eine alte Waschfrau, die vergessen und übersehen wird. Sie ist allein und arbeitet so viel sie kann, doch ihre Kräfte schwinden. Sie war immer emsig und hat sogar anderen geholfen, wenn sie konnte. Jetzt jedoch ist sie im Betteln unerfahren und fühlt die Härte des Lebens. Sie bittet Gott, sie bald zu sich zu nehmen, denn sie kann nicht mehr arbeiten. Am Ende ruft das lyrische Ich dazu auf, die Arbeit und das reine Gewissen der Frau zu schätzen und wünscht den Hörern ein ähnlich hohes Alter und ein reines Gewissen.

Die Form des Gedichts ist ein Lied, mit fünf Strophen mit je sechs Versen. Die Verse sind in gereimten Paaren abgefasst. Die Sprache des Gedichts ist einfühlsam und nachdenklich, gleichzeitig aber auch einfordernd und aufrüttelnd. Das lyrische Ich richtet sich direkt an die Leser und Hörer und scheint von der Lebenseinstellung und dem Schicksal der Waschfrau sehr berührt zu sein. Es ist ein Appell an die Gesellschaft, die übersehenen und marginalisierten Menschen nicht zu vergessen.

Die Bedeutung des Gedichts scheint zweifach zu sein: Zum einen ist es ein Kommentar zur sozialen Ungleichheit und zur Behandlung der Arbeiterschicht in der Gesellschaft. Die alte Waschfrau mag für viele unsichtbar sein, aber ihre Geschichte ist ein erinnernder Appell an die Menschlichkeit. Zum anderen ist es eine Meditation über das Alter und den Tod und die unausweichliche Vergänglichkeit des Lebens.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Zweites Lied von der alten Waschfrau“ ist Adelbert von Chamisso. Im Jahr 1781 wurde Chamisso geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1797 und 1838. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Chamisso ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein dauerte die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik an. Ihre Auswirkungen waren in der Literatur, der Kunst aber auch der Musik und Philosophie spürbar. Die Epoche wird in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) unterschieden. Die Zeit der Romantik war für die Menschen in Europa von Umbrüchen geprägt. Die Französische Revolution (1789 - 1799) zog weitreichende Folgen für ganz Europa nach sich. Auch der Fortschritt in Wissenschaft und Technik, der den Beginn des industriellen Zeitalters einläutete, verunsicherte die Menschen und prägte die Gesellschaft. In der Romantik gilt das Mittelalter als das Ideal und wird verherrlicht. Die Kunst und Architektur der Zeit des Mittelalters werden geschätzt, gepflegt und gesammelt. Übel und Missstände dieser Zeit bleiben außen vor und scheinen bei den Schriftstellern in Vergessenheit geraten zu sein. So ist gerade die Verklärung des Mittelalters ein zentrales Merkmal der Romantik. Außerdem sind die Weltflucht, die Hinwendung zur Natur und die romantische Ironie weitere zentrale Merkmale dieser Epoche. Die Grundthemen waren Seele, Gefühle, Individualität und Leidenschaft. In der Literatur wurden diese Themen unter anderem durch Motive der Sehnsucht, Todessehnsucht, Fernweh oder Einsamkeit in der Fremde materialisiert. Die äußere Form von romantischer Literatur ist völlig offen. Kein festgesetztes Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits direkt nach Erscheinen der Werke wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.

Das Gedicht besteht aus 30 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 216 Worte. Weitere Werke des Dichters Adelbert von Chamisso sind „Das Dampfroß“, „Die Kreuzschau“ und „Die Löwenbraut“. Zum Autor des Gedichtes „Zweites Lied von der alten Waschfrau“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 146 Gedichte vor.

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