Ein Baal Teschuba von Adelbert von Chamisso

Noch hatte der Rabbiner nicht begonnen
Zu unterrichten, im gedrängten Kreise
Der Schüler hatte sich Gespräch entsponnen;
Gespräch von jenem rätselhaften Greise,
Der in die Synagoge war gekommen
Fast eigentümlich schauerlicher Weise;
Der auf der Trauerbank den Platz genommen,
Dem Sträfling gleich, andächtig immerdar,
Ein Vorbild der Erbauung allen Frommen,
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Und wie das Schlußgebet gesprochen war,
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Aufspringend mit befremdlicher Geberde,
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Sein Haupt verhüllt im faltigen Talar,
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Sich quer am Eingang auf die harte Erde
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Vor allen niederstürzend hingestreckt,
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Auf daß mit Füßen er getreten werde.
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Doch keiner tat's, denn jeder wich erschreckt
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Zur Seite, daß den Starren er vermeide,
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Den erst der letzten Schritte Hall erweckt.
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Ein Pole müßt er sein nach seinem Kleide,
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Doch haben, die ihn sprachen, ausgesagt,
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Daß ihn die deutsche Mundart unterscheide.
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Nach seinem Namen haben sie gefragt,
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Worauf er seufzend Antwort nicht gegeben;
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Sie haben, mehr zu fragen, nicht gewagt.
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Da trat, wie so die Schüler sprachen, eben
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Der Greis herein, dem Winter zu vergleichen
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Von jugendlichem Frühlingsreis umgeben.
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Es sahn die Ringsverstummenden ihn schleichen
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Dem letzten Platze zu, um den er bat,
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Ihn sollte da das heil'ge Wort erreichen.
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Und der Rabbiner sich erhebend trat
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Mit ernstem Worte zu dem seltnen Gast:
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»Hier gilt es, auszustreuen gute Saat.
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Wie du im Tempel dich betragen hast,
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Erscheint vielleicht in zweifelhaftem Lichte
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Dem, der den Gang des Lebens nicht erfaßt;
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Was aber dich bewogen, das berichte
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Du diesen hier, damit auch sie es wissen;
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Ich fodre deine düstere Geschichte.
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Gar mancher ist der Weisheit nicht beflissen,
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Der wahrlich anders würde sein, verstünd er
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Den Ernst der Tat im strafenden Gewissen.«
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»Ich bin ein Baal Teschuba, bin ein Sünder,
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Der wallend durch das Elend Buße tut,
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Und jetzt der eignen Missetat Verkünder.
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Nach meinem Namen forschet nicht, der ruht
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Bei meinen Hinterlaßnen, Weib und Kindern,
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Und liegt bei Haus und Hof und Hab und Gut.
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Ich handelte, geehrt und reich, mit Rindern
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Und sah mit Stolz auf meines Hauses Flor,
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Der sollte jähen Sturzes bald sich mindern.
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Ich stand indes dem Ehrenamte vor,
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Die Spenden der Gemeinde darzureichen
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Den fremden Armen vor des Tempels Tor.
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Ein Weib, ihr Bild will nimmer von mir weichen,
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Ein schwangres Weib schalt einst mich einen Wicht,
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Und zankte, schrie und schmähte sondergleichen.
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Da faßte mich der Zorn, ich hielt mich nicht,
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Ich hob die Hand zu unheilvoller Stunde
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Und schlug die Keiferin ins Angesicht.
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Das Wort erstarb in ihrem blassen Munde,
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Sie wankte, fiel, da lagen scharfe Scherben,
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Es quoll ihr Blut aus einer tiefen Wunde.
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Ich sah das grüne Gras sich purpurn färben,
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Sah krampfhaft noch sie zucken eine Zeit,
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Dann starr gestreckt zu meinen Füßen sterben.
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Nicht in die Hände der Gerechtigkeit
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Geliefert hätte mich die Brüderschaft,
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Ich war von jeder äußern Furcht befreit.
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Doch einen Richter gibt's, der Rache schafft,
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Gewissen heißet, der die scharfen Krallen
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Ins Herz mir eingerissen voller Kraft.
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Und ich erkor, ein Fragender, zu wallen
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Zu einem frommen Greise: 'Rabbi, sprich,
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Wie büß ich, der ich so in Schuld gefallen?'
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Und harter Bußen viele lud auf mich
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Der strenge Mann mit Beten, Baden, Fasten,
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Nur eine, eine nur war fürchterlich.
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Mit meinem Fluche sollt ich mich belasten,
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Ins Elend willig gehn am Bettelstabe,
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Und sieben Jahre nicht auf Erden rasten.
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Ich hab's getan, ein Baal Teschuba habe
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Sechs Jahr ich schon vom Mitleidsbrot gezehrt,
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Sechs Jahre mich genähert meinem Grabe.
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Die Heimat zu betreten war verwehrt;
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Ich habe mich, zu machtvoll angezogen,
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In immer engern Kreisen ihr genäh'rt.
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Und einst, da stand ich vor des Tores Bogen
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Der Vaterstadt, da stand ich, wie gebannt,
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Mit ausgestreckten Armen vorgebogen.
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Ich hätte fliehen sollen; übermannt
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Von namenloser Sehnsucht trat ich ein,
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Wie selbst so fremd! wie alles so bekannt!
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Des langen Haupt- und Barthaars Silberschein,
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Der Stirne Furchen und die fremde Tracht
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Ich mochte jedem wohl unkenntlich sein.
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Wie schlug das Herz mir in der Brust mit Macht!
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Ich schlich daher, so wie der Sünder schleicht,
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Und wo die Straß am Markt die Biegung macht...
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Gott Israels! mein Haus! - Ein Kind - vielleicht
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Mein eignes Kind! - ein Mädchen tritt heraus,
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Hat Rahel solch ein Alter wohl erreicht?
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Der Ew'ge segne dich und dieses Haus,
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Mein süßes Kind! ein Bettler ruft dich an
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Aus bittern Elends namenlosem Graus.
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Sie sah mich freundlich an, und schritt sodann
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Ins Haus zurück, und kam nach kurzer Frist:
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'Die Mutter schickt dir das, du armer Mann.'
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Es war ein Kreuzer nur - die Mutter!? 'Ist
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Bekannt auch deiner Mutter, daß so klein
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Die Gift sie einem Baal Teschuba mißt?'
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Sie sah mich staunend an, und ging hinein,
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Und kam sogleich auch wieder her zu mir:
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'Die Mutter sagt: es kann nicht anders sein.
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Sie hat's jetzt nicht, denn Vater ist gleich dir
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Ein Baal Teschuba; würdest mehr bekommen,
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Wär unser armer guter Vater hier.'
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Nun hatt ich's ja aus ihrem Mund vernommen!
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Ich habe schluchzend schnell mich abgewandt
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Und nicht mein Kind an meine Brust genommen,
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Ins Elend hab ich mich zurückgebannt.«

Details zum Gedicht „Ein Baal Teschuba“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
121
Anzahl Wörter
827
Entstehungsjahr
1781 - 1838
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ein Baal Teschuba“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Adelbert von Chamisso. Geboren wurde Chamisso im Jahr 1781 . Im Zeitraum zwischen 1797 und 1838 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Chamisso handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine Epoche der Kulturgeschichte, zeitlich anzusiedeln vom späten 18. Jahrhundert bis spät in das 19. Jahrhundert hinein. Auf die Literatur bezogen: von 1795 bis 1848. Sie hatte umfangreiche Auswirkungen auf Literatur, Kunst, Musik und Philosophie jener Zeit. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Welt, die sich durch die einsetzende Industrialisierung und Verstädterung mehr und mehr veränderte, verunsicherte die Menschen. Die Französische Revolution in den Jahren 1789 bis 1799 hatte ebenfalls Auswirkungen auf die Romantik. Wesentliche Motive in der Lyrik der Romantik sind die Ferne und Sehnsucht sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Andere Motive sind das Fernweh, das Nachtmotiv oder die Todessehnsucht. So symbolisierte die Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das Geheimnisvolle, Mysteriöse und galt als Quelle der Liebe. Merkmale der Romantik sind die Hinwendung zur Natur, die Weltflucht oder der Rückzug in Traumwelten. Insbesondere ist aber auch die Idealisierung des Mittelalters aufzuzeigen. Kunst und Architektur des Mittelalters wurden von den Romantikern wieder geschätzt. Die Romantik stellt die Freiheit der Phantasie sowohl über den Inhalt als auch über die Form des Werkes. Eine Konsequenz daraus ist ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Lyrik und Epik. Die festen Regeln und Ziele der Klassik werden in der Romantik zurückgelassen. Eine gewisse Maß- und Regellosigkeit in den Werken fällt auf.

Das 827 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 121 Versen mit nur einer Strophe. Der Dichter Adelbert von Chamisso ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Mädchen“, „Der Spielmann“ und „Helft mir, ihr Schwestern“. Zum Autor des Gedichtes „Ein Baal Teschuba“ haben wir auf abi-pur.de weitere 146 Gedichte veröffentlicht.

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