Der verschiedene Gesang von Johann Gottfried Herder

Einst schlug mit wundersüßem Schall
Die Klagenreiche Nachtigall;
Ein muntrer Sperling hörte zu:
„O säng ich, Nachtigall, wie du!
Doch warum soll mirs nicht gelingen?
Ich will auch lernen also singen.“
 
Die Nachtigall spricht: „nun wohlan!
Es singe, wer da singen kann;
Doch nie war ich um Kunst bemüht:
10 
Denn aus dem Herzen quillt mein Lied.
11 
Nur meiner Liebe zarte Klagen,
12 
Nur meine Seufzer will ich sagen.“
 
13 
„Wenn Liebe den Gesang dir giebt,
14 
Wer ist mehr als der Spatz verliebt?
15 
Ich sing’ auch Liebe“ – – Was geschieht?
16 
Er zirpt ein Nachtigallenlied,
17 
Und seine Bule war zufrieden;
18 
Ihr war ein Sperlingsohr beschieden.
 
19 
Nicht also wars die Nachtigall:
20 
„Was quälst du, sprach sie, deinen Schall!
21 
Sing’ doch und lieb’ in deiner Art,
22 
Die Meine laß mir aufgespart.
23 
Du tändelst froh; ich singe Schmerz:
24 
Wie der Gesang, so ist das Herz.“
 
25 
Die ihr ein Lied der Liebe wagt,
26 
Hört, was die Nachtigall euch sagt.
27 
Wer tändeln kann und klagen will,
28 
Der schweige mit der Klage still.
29 
Gar anders liebt des Sperlings Herz;
30 
Gar anders Philomelens Schmerz.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Der verschiedene Gesang“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
172
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht stammt von Johann Gottfried Herder, einem wichtigen Vertreter der Weimarer Klassik und der Aufklärung, der von 1744 bis 1803 lebte.

Auf den ersten Blick handelt das Gedicht von einer Konversation zwischen einer Nachtigall und einem Sperling, die beide unterschiedliche Gesangsstile haben. Der Sperling zeigt Bewunderung für den ausdrucksstarken Gesang der Nachtigall und wünscht sich, auf eine ähnliche Weise singen zu können. Die Nachtigall erwidert jedoch, dass ihr Gesang einzigartig ist und unmittelbar aus ihrem Herzen fließt - und daher nicht kopiert werden kann. Am Ende des Gedichts werden die Unterschiede im Gesang und in den Gefühlen von Sperling und Nachtigall betont.

Herders Gedicht geht aber über die einfache Darstellung der Natur hinaus. Die Nachtigall und der Sperling repräsentieren unterschiedliche Typen von Künstlern: Einerseits der Künstler, der aus seinem Herzen heraus, mit Tiefe und Gefühl seine Werke schafft (Nachtigall), andererseits der Künstler, der eher oberflächlich und imitierend agiert(Sperling). Die Nachtigall verkörpert hierbei hohe Poesie, die Sperling Volkslied. Es thematisiert somit auch das Spannungsfeld zwischen Natur und Kunst, Individualität und Nachahmung.

Das Gedicht besteht aus fünf Strophen mit jeweils sechs Versen, bei denen der Reim folgendermaßen aufgebaut ist: ABABCC. Die Verwendung eines ausgeprägten Reimschemas unterstreicht die musikalische Natur des Gedichts selbst, was wiederum zum Thema Gesang passt. Die einfache, direkte und dennoch klangvolle Sprache gibt den lyrisch-musikalischen Inhalt des Gedichts wider und macht es leicht verständlich.

Das Gedicht „Der verschiedene Gesang“ von Herder benutzt somit die symbolische Darstellung von Nachtigall und Sperling, um Unterschiede in künstlerischer Ausdrucksweise und Herangehensweise zu thematisieren, wobei der Ausdruck des eigenen, echten Gefühls höher bewertet wird als leere Nachahmung.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Der verschiedene Gesang“. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. 1787 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Gotha. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Die Epoche des Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich dabei gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich darüber hinaus auch gegen das Bürgertum, das als freudlos und eng galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Die Vertreter waren meistens junge Autoren, zumeist nicht älter als 30 Jahre. In den Dichtungen wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Auf zeitlicher Ebene lässt sich die Weimarer Klassik mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Zwei gegensätzliche Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt. Die Aufklärung und die gefühlsbetonte Strömung Sturm und Drang. Die Weimarer Klassik ist eine Synthese dieser beiden Elemente. Wie der Name bereits verrät, liegen der Ausgangspunkt und das literarische Zentrum der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Zum Teil wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. Zu den wichtigsten Motiven der Weimarer Klassik gehören unter anderem Toleranz und Menschlichkeit. In der Weimarer Klassik wird eine geordnete, einheitliche Sprache verwendet. Allgemeingültige, kurze Aussagen (Sentenzen) sind oftmals in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, setzte man großen Wert auf formale Ordnung und Stabilität. Metrische Ausnahmen befinden sich häufig an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Die bekanntesten Dichter der Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das 172 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 30 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „An Auroren“, „An den Schlaf“ und „An die Freundschaft“. Zum Autor des Gedichtes „Der verschiedene Gesang“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Johann Gottfried Herder

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Johann Gottfried Herder und seinem Gedicht „Der verschiedene Gesang“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder (Infos zum Autor)

Zum Autor Johann Gottfried Herder sind auf abi-pur.de 413 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.