Morgengesang von Johann Gottfried Herder

Erwach, erwach am neuen Morgen
Mit allem neuen frühen Morgenchor,
Du meine Harf', und tön' ins frohe Weltgetümmel
Mit voller Sait' hinein!
 
Denn in das frohe Weltgetümmel
Gehörst auch, schwachbesaitet, Du, ins Chor
Der schönen Morgenstern' und früher Lerchenstimmen
Und alles Sphärenklangs.
 
Sie wandeln dort, die Sängerinnen,
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Die Morgenstern', und singen ihn heran,
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Der sie mit Vaterblicken segnet, todte Welten
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Vom Schlummer lächelt auf.
 
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Du auch ein Morgenstern, o Harfe,
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Empfang ihn, der ein Jüngling kommen wird
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Und güldne Strahlen Dir auf Deine Saiten klingen
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Und wecken Deine Welt.
 
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Der Erde Töchter wird er wecken,
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Die Blumen, mit der süßen Liebe Pfeil,
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Daß sie sich wundern ihres neuen schönen Schmuckes
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Und weinen Freudenthau.
 
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Des Himmels Chöre wird er wecken,
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Die singenden Gefieder, daß sie hoch
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Auf Lüften schweben und den Flug mit Tönen steuern
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Und füllen Wald und Thal.
 
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Und Alle sollst Du sie beleben,
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Der Stimmen Erstgeborne, Tochter Du
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Des Ewigen! Sieh, wie dort schon die Himmelsschwinge,
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Die Lerche, Dir entsteigt!
 
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Und jene Gipfel, wie sie rauschen
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Dem Kommenden! Entzückungsschauer fließt
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Durch alle Wesen, und in schwarzen, schweren Wellen
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Erhebt die Nacht sich fort.
 
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O herrsch umher, Du Harfe Gottes,
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So weit der schöne Rosenjüngling strahlt;
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Er herrscht am weiten Himmel, und die Dich beseelet,
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Ist Erdekönigin.
 
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Wohin er güldne Strahlen sendet,
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Wie weit sein Zelt der blaue Himmel zieht,
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Ist Dein Gebiet, o Seele; jene schöne Hütte
40 
Ist hoch für Dich gewölbt.
 
41 
All Deines Blickes hohes Ende,
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All Deines Ganges End' ist Himmel nur;
43 
Und Du, die in mir denkt, bist Sonne; was Du denkest,
44 
Ist mehr als Lichtesstrahl.
 
45 
Wer bist Du, neuerwachte Seele,
46 
Die in sich selbst als eine Sonne blickt
47 
Und gießt in einem zarten strahlenden Gedanken
48 
Der Farben ganzes Meer?
 
49 
Wer bist Du, die auf Welten blicket
50 
Und aus sich selber neue Welten schafft
51 
Und, wie die Sonne dort, die Wesen rings beglänzet
52 
Mit Licht und Seligkeit,
 
53 
Daß Thränen, wie der holden Blume,
54 
Der Dankbarkeit entfließen, daß sich Schmerz
55 
Und Kummer selbst in Freudenthränen wandeln
56 
Und werden Himmel uns?
 
57 
O Tagewerk voll Götterwonne!
58 
Schon wandelt dort der Jüngling seine Bahn.
59 
Schweig, Harfe, daß auch ich die meine wandl' und ende
60 
Mit schönem Abendroth!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Morgengesang“

Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
60
Anzahl Wörter
358
Entstehungsjahr
1772
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht „Morgengesang“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem deutschen Dichter, Philosophen und Theologen der Spätaufklärung. Es ist anzunehmen, dass Herder das Gedicht im 18. Jahrhundert verfasst hat, geprägt durch die Gedanken und Ideale der Aufklärung.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht erhebend und optimistisch. Die belebende Kraft des Morgens und der Natur zieht sich als dominantes Thema durch das ganze Gedicht. Der Morgen wird als Metapher für Neubeginn und Erneuerung verwendet.

Mit Bezug auf den Inhalt spricht das lyrische Ich seine eigene Harfe an und ermuntert sie, an dem neuen Morgen zu erwachen und sich der Harmonie der Natur anzuschließen. Diese Harmonie wird durch den Chor der Morgensterne, der früh singenden Lerchen und das gesamte „Weltgetümmel“ symbolisiert. Das lyrische Ich sieht in der Harfe eine Schwester der Natur und erklärt ihre Rolle als „Morgenstern“, der den neuen Morgen mit ihrem Gesang begrüßen soll. Dabei wird der neue Tag personifiziert und als Jüngling beschrieben, der mit seinen goldenen Strahlen Leben weckt.

In Bezug auf Form und Sprache ist das Gedicht strukturiert in 15 Strophen, die jeweils vier Verse haben. Es besteht eine durchgehende Form, was Stabilität und Ordnung suggeriert, passend zu der erneuernden Morgenroutine, die das Gedicht thematisiert. Die Sprache des Gedichts ist bildreich und metaphorisch. Es wird eine Welt voller Harmonie und Schönheit beschrieben, die zum Leben erwacht und die natürliche Ordnung feiert.

Es werden im Gedicht Personifikationen und Metaphern genutzt, um die Natur und den Morgen lebendig und aktiv zu machen, und es wird ein Bild von einer Welt voller Harmonie und natürlicher Schönheit entworfen. Die Personifikation des neuen Tages als Jüngling, der Leben mit seinen Strahlen weckt, und der Harfe als einer Morgenstern-Sängerin, verdeutlicht diese Harmonie und Lebendigkeit.

Zusammengefasst ist „Morgengesang“ von Herder ein Gedicht, das den neuen Morgen feiert und gleichzeitig die Rolle der Kunst (hier verkörpert durch die Harfe) als Teil des natürlichen Rhythmus und als Schöpferin von Harmonie hervorhebt. Es ist ein Lobgedicht auf das Erwachen der Schöpfung und die Belebung durch die Sonne. Es existiert eine tiefe Verbundenheit zwischen der Natur und der Harfe und letztlich der menschlichen Kreativität, die ihre Inspiration aus der natürlichen Welt schöpft. Das lyrische Ich sieht sich selbst als Teil dieses Kreislaufs der Natur, betont durch die immer wiederkehrenden Motive des Erwachens und der Erneuerung.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Morgengesang“. Geboren wurde Herder im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen). Im Jahr 1772 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Autoren des Sturm und Drang waren zumeist Schriftsteller jüngeren Alters, häufig unter 30 Jahre alt. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Richtungsweisend für die Literatur der Weimarer Klassik war die Französische Revolution. Menschen setzten sich dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Der Beginn der Weimarer Klassik ist im Jahr 1786 auszumachen. Die Literaturepoche endete im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. In Anlehnung an das antike Kunstideal wurde in der Weimarer Klassik nach Vollkommenheit, Harmonie, Humanität und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. In der Gestaltung wurde das Wesentliche, Gültige, Gesetzmäßige sowie die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oft roh und derb ist, bleibt die Sprache in der Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die wichtigsten Dichter der Weimarer Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das 358 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 60 Versen mit insgesamt 15 Strophen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Apollo“, „Bilder und Träume“ und „Das Flüchtigste“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Morgengesang“ weitere 413 Gedichte vor.

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