Dem Genius der Kühnheit von Johann Christian Friedrich Hölderlin

Wer bist du? wie zur Beute, breitet
Das Unermeßliche vor dir sich aus,
Du Herrlicher! mein Saitenspiel geleitet
Dich auch hinab in Plutons dunkles Haus;
So flogen auf Ortygias Gestaden,
Indeß der Lieder Sturm die Wolken brach,
Dem Rebengott die taumelnden Mänaden
In wilder Lust durch Hain und Klüfte nach.
 
Einst war, wie mir, der stille Funken
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Zu freier heitrer Flamme dir erwacht,
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Du braustest so, von junger Freude trunken,
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Voll Übermuths durch deiner Wälder Nacht,
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Als von der Meisterinn, der Noth, geleitet,
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Dein ungewohnter Arm die Keule schwang,
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Und drohend sich, vom ersten Feind erbeutet,
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Die Löwenhaut um deine Schulter schlang. –
 
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Wie nun in jugendlichem Kriege
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Heröenkraft mit der Natur sich maß.
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Ach! wie der Geist, vom wunderbaren Siege
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Berauscht, der armen Sterblichkeit vergaß!
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Die stolzen Jünglinge! die kühnen!
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Sie legten froh dem Tyger Fesseln an,
 
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Sie bändigten, von staunenden Delphinen
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Umtanzt, den königlichen Ozean.
 
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Oft hör’ ich deine Wehre rauschen,
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Du Genius der Kühnen! und die Lust,
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Den Wundern deines Heldenvolks zu lauschen,
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Sie stärkt mir oft die lebensmüde Brust;
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Doch weilst du freundlicher um stille Laren,
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Wo eine Welt der Künstler kühn belebt,
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Wo um die Majestät des Unsichtbaren
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Ein edler Geist der Dichtung Schleier webt.
 
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Den Geist des Alls, und seine Fülle
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Begrüßte Mäons Sohn auf heil’ger Spur,
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Sie stand vor ihm, mit abgelegter Hülle,
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Voll Ernstes da, die ewige Natur;
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Er rief sie kühn vom dunklen Geisterlande,
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Und lächelnd trat, in aller Freuden Chor,
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Entzückender im menschlichen Gewande
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Die namenlose Königin hervor.
 
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Er sah die dämmernden Gebiete,
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Wohin das Herz in banger Lust begehrt,
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Er streuete der Hoffnung süße Blüthe
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Ins Labyrinth, wo keiner wiederkehrt,
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Dort glänzte nun in mildem Rosenlichte
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Der Lieb’ und Ruh’ ein lächelnd Heiligthum,
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Er pflanzte dort der Hestariden Kräfte,
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Dort stillt die Sorgen nun Elysium.
 
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Doch schrecklich war, du Gott der Kühnen!
 
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Dein heilig Wort, wenn unter Nacht und Schlaf
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Verkündiger des ew’gen Lichts erschienen,
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Und den Betrug der Wahrheit Flamme traf;
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Wie seinen Blitz aus hohen Wetternächten
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Der Donnerer auf bange Thale streut,
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So zeigtest du entarteten Geschlechten
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Der Riesen Sturz, der Völker Sterblichkeit.
 
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Du wogst mit strenggerechter Schaale,
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Wenn mit der Toga du das Schwerd vertauscht,
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Du sprachst, sie wankten die Sardanapale,
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Vom Taumelkelche deines Zorns berauscht;
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Es schröckt umsonst mit ihrem Tygergrimme
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Dein Tribunal die alte Finsterniß,
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Du hörtest ernst der Unschuld leise Stimme,
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Und opfertest der heil’gen Nemesis.
 
65 
Verlaß mit deinem Götterschilde,
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Verlaß o du der Kühnen Genius!
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Die Unschuld nie. Gewinne dir und bilde
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Das Herz der Jünglinge mit Siegsgenuß!
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O säume nicht! ermahne, strafe, siege!
70 
Und sichre stets der Wahrheit Majestät,
71 
Bis aus der Zeit geheimnisvoller Wiege
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Des Himmels Kind, der ew’ge Friede geht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31.1 KB)

Details zum Gedicht „Dem Genius der Kühnheit“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
72
Anzahl Wörter
444
Entstehungsjahr
1793
Epoche
Klassik

Gedicht-Analyse

Das gegebene Gedicht stammt von Johann Christian Friedrich Hölderlin, einem deutschen Lyriker und Dramatiker, der als einer der bedeutendsten Vertreter der Romantik gilt. Er lebte von 1770 bis 1843, daher lässt sich das Gedicht in die Epoche der Spätromantik einordnen.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht begeisternd und herausfordernd. Es beschwört die kühnen Heldentaten vergangener Zeiten und den unermüdlichen Geist des Abenteuers und der Entdeckung. Hölderlin versteigt sich in heroische und mythische Darstellungen, um das Wesen der Kühnheit zu erfassen.

Das lyrische Ich spricht den Genius der Kühnheit direkt an und scheint sich von seiner Macht und seinem Mut inspirieren zu lassen. Die erste Strophe führt uns in eine Welt der mythischen, gottgleichen Helden, die das Unermessliche vor sich ausbreiten. In den folgenden Strophen wird die Aufbruchs- und Siegesfreude junger Helden beschrieben. Gegen Ende wendet sich das lyrische Ich an den Genius der Kühnheit und fordert ihn auf, die Unschuld nie zu verlassen und das Herz der Jünglinge zu prägen.

In seiner Form weist das Gedicht eine regelmäßige Strophenbildung auf. Die meisten Strophen bestehen aus acht Versen, es gibt jedoch auch Strophen mit weniger Versen. Das Reimschema ist eher variabel und nicht durchgehend konsistent.

Die Sprache des Gedichts ist gehoben und voller Pathos. Hölderlin verwendet zahlreiche ausschmückende Adjektive und bildhafte Vergleiche, um die gewaltigen und heroischen Szenen zu malen. Dabei entstehen kraftvolle und lebendige Bilder von heroischen Wagnissen und kühnen Taten. Auch eine tiefe Wertschätzung für die Natur wird deutlich, die als unablässige Herausforderung und Inspirationsquelle betrachtet wird.

Insgesamt zeichnet das Gedicht ein Bild des Genius der Kühnheit als treibende Kraft hinter kühnen Taten und heroischen Bestrebungen. Es versteht Kühnheit als notwendige Voraussetzung für große Errungenschaften und als Quelle von Inspiration und Kraft. Gleichzeitig stellt es Kühnheit auch als moralischen Wert dar, der die Helden dazu ermuntert, stets die Wahrheit zu wahren und die Unschuld zu verteidigen.

Weitere Informationen

Johann Christian Friedrich Hölderlin ist der Autor des Gedichtes „Dem Genius der Kühnheit“. Hölderlin wurde im Jahr 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1793. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Klassik zuordnen. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das vorliegende Gedicht umfasst 444 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 72 Versen. Johann Christian Friedrich Hölderlin ist auch der Autor für Gedichte wie „Abendphantasie“, „An Ihren Genius“ und „An die Deutschen“. Zum Autor des Gedichtes „Dem Genius der Kühnheit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 181 Gedichte veröffentlicht.

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