Das Turngedicht am Pferd von Joachim Ringelnatz

Schon den Römern bekannt

Es lebte an der Mündung der Dobrudscha
Ein Roll- und Bier- und Leichenwagenkutscher.
Der riß lebendigem Getier – o Graus! –
Mit kaltem Blut die Pferdeschwänze aus.
Hopla!
 
Jedoch verscherzte er mit solchen Streichen
Sich den Verkehr mit Roll und Bier und Leichen
Und frönte nun dem Trunk, auch nebenbei
Der Kunst, speziell der Pferdeschlächterei.
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Hopla!
 
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Man traf ihn manchmal unter Viadukten
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Mit Pferdeköpfen, die noch lebhaft zuckten,
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Und fragte man dann nach dem Preis pro Pfund,
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Dann brüllte er und hatte Schaum vorm Mund:
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„Hopla!“
 
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Doch abermals aus dem Beruf gestoßen,
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Ergab er sich dem Schicksal aller Großen
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Und wurde – solches traf sich eben gut –
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Pedell an einem Turninstitut.
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Hopla!
 
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Schon im Begriff, sein Leben umzuwandeln,
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Besoff er sich und stürzte über Hanteln.
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Er wußte selber nicht, wie weit, wie tief;
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Jedoch er fragte gar nicht, sondern schlief.
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. . . la . . .
 
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Punkt Mitternacht bemerkte der Betäubte,
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Daß sich sein Haar mit leisem Knirschen sträubte.
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Er wachte auf und sah im bleichen Glanz
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Ein Pferd, ein Pferd, ganz ohne Haupt und Schwanz.
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. . . pla!
 
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Nun reckte sich das abenteuerliche
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Gespenst und wuchs ins Ungeheuerliche.
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Drei Meter mochte es gewachsen sein,
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Da hielt es inne, schnappte plötzlich ein.
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Hopla!
 
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Und nun, wohl in Ermangelung von Äpfeln,
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Begann es Sägemehl aus sich zu tröpfeln.
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„Mensch,“ rief es, „der du Tiere quälen kannst,
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Auf! Springe über meinen Lederwanst.
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Hopla!“
 
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Er sprang bereits, wie ihn die Formel bannte,
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Er sprang und fiel, erhob sich wieder, rannte
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Und sprang und rannte, sprang und sprang und sprang,
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Wohl stunden-, tage-, wochen-, jahrelang.
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Hopla! Hopla! Hopla! Hopla!
 
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Bis plötzlich unter ihm das Pferd zerkrachte.
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Da brach er auch zusammen, und erwachte.
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Indem er schwur, nie wieder nachts zu picheln,
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Bemerkte er, gereizt durch fremdes Sticheln,
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Daß ihn, der doch sich täglich glatt rasierte,
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Ein langer Zwickelbart aus Roßhaar zierte.
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Ho!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.6 KB)

Details zum Gedicht „Das Turngedicht am Pferd“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
298
Entstehungsjahr
1923
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Verfasser des Gedichts „Das Turngedicht am Pferd“ ist Joachim Ringelnatz, ein deutscher Schriftsteller und Kabarettist, der von 1883 bis 1934 lebte. Seine Werke gehören zur literarischen Epoche der Neuen Sachlichkeit, welche sich durch eine nüchterne und sachliche Beschreibung der Wirklichkeit auszeichnet.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht satirisch und humoristisch. Ringelnatz spielt mit grotesken und komischen Bildern und bringt den Leser dadurch zum Schmunzeln.

Inhaltlich handelt das Gedicht von einem Mann, der erst als Kutscher arbeitet, sich dann aber, aufgrund seines brutalen Umgangs mit Tieren und seiner Trunksucht, immer wieder neuen Beschäftigungen zuwenden muss. Schließlich findet er eine Anstellung in einem Turninstitut, wo er über Hanteln stolpert und sich den Kopf stößt. Er träumt, dass ein geisterhaftes Pferd ihn durch lautes „Hopla“ dazu animiert, über seinen „Lederwanst“ zu springen - ein Sinnbild des Voltigierens. Am Ende des Traums erwacht der Mann und stellt fest, dass er jetzt einen Zwickelbart aus Pferdehaar hat, was als Bestrafung für sein vorheriges Fehlverhalten gegenüber Pferden interpretiert werden kann.

Das lyrische Ich nutzt das groteske und humorvolle Gedicht als Gesellschaftskritik. Es nimmt den unsteten Lebenswandel und die Trunksucht des Protagonisten aufs Korn und kritisiert ebenso den brutalen Umgang mit Tieren.

Formal ist das Gedicht durch eine klare Strophen- und Versstruktur geprägt. Jede Strophe besteht aus fünf Versen, abgesehen von der abschließenden Strophe mit sieben Versen. Interessanterweise endet jede Strophe, bis auf die fünfte und sechste, mit einem „Hopla“, einer Aufforderung zum Springen, was die Turnelemente des Gedichts unterstreicht.

Die Sprache des Gedichts ist in der Art der Neuen Sachlichkeit nüchtern und realistisch, aber mit humoristischen und grotesken Bildern angereichert. Der Dialekt und der flapsige Tonfall tragen dabei zur humorvollen Wirkung und zur Gesellschaftskritik bei.

Insgesamt handelt es sich bei „Das Turngedicht am Pferd“ um eine humorvolle und satirische Auseinandersetzung mit den Themen Trunksucht, unsteter Lebenswandel und Tierquälerei. Zugleich wird der Leser durch die groteske Darstellung und den flapsigen Tonfall unterhalten.

Weitere Informationen

Joachim Ringelnatz ist der Autor des Gedichtes „Das Turngedicht am Pferd“. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Im Jahr 1923 ist das Gedicht entstanden. In München ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne oder Expressionismus zu. Bei dem Schriftsteller Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 298 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 52 Versen. Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „Afrikanisches Duell“, „Alone“ und „Alte Winkelmauer“. Zum Autor des Gedichtes „Das Turngedicht am Pferd“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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