Östliches Taglied von Rainer Maria Rilke

Ist dieses Bette nicht wie eine Küste,
ein Küstenstreifen nur, darauf wir liegen?
Nichts ist gewiß als deine hohen Brüste,
die mein Gefühl in Schwindeln überstiegen.
 
Denn diese Nacht, in der so vieles schrie,
in der sich Tiere rufen und zerreißen,
ist sie uns nicht entsetzlich fremd? Und wie:
was draußen langsam anhebt, Tag geheißen,
ist das uns denn verständlicher als sie?
 
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Man müßte so sich ineinanderlegen
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wie Blütenblätter um die Staubgefäße:
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so sehr ist überall das Ungemäße
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und häuft sich an und stürzt sich uns entgegen.
 
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Doch während wir uns aneinander drücken,
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um nicht zu sehen, wie es ringsum naht,
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kann es aus dir, kann es aus mir sich zücken:
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denn unsre Seelen leben von Verrat.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Östliches Taglied“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
17
Anzahl Wörter
117
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Östliches Taglied“ wurde von dem Prager Dichter Rainer Maria Rilke geschrieben. Rilke lebte von 1875 bis 1926, also Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine Werke sind Teil der Literaturperiode der Moderne.

Bereits beim ersten Lesen wird die Intimität und Sensibilität der lyrischen Situation offensichtlich. Zwei Liebende liegen in einem Bett, welches metaphorisch als Küstenstreifen bezeichnet wird, auf dem sie sicher liegen. Die einzige Gewissheit in der lyrischen Situation scheinen die Brüste des lyrischen Du zu sein, die in Vers 3 direkt angesprochen werden.

Das lyrische Ich scheint eine bestimmte Unruhe und Unsicherheit zu fühlen. Die Außenwelt, repräsentiert durch die Nacht und die Tiere, erscheint ihm fremd und unverständlich. Es zieht sich in das Bett und die körperliche Nähe zum lyrischen Du zurück, um sich vor der Außenwelt zu schützen.

Das Gedicht ist in vier Strophen unterteilt, die jeweils aus vier bis fünf Versen bestehen. In der ersten Strophe formuliert das lyrische Ich seine Sehnsucht und seine Bewunderung für das lyrische Du. Es idealisiert das Du und sieht in ihm einen sicheren Hafen in der unverständlichen und chaotischen Außenwelt.

In der zweiten Strophe wird das Motiv der Fremdheit und Unruhe fortgeführt. Die Außenwelt wird als bedrohlich und unverständlich dargestellt. Der Tag, der eigentlich als Zeichen des Neuanfangs und der Klarheit gesehen wird, ist auch fremd und unverständlich.

In der dritten Strophe wird die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach Nähe und Zusammengehörigkeit mit dem Du ausgedrückt. Es sucht Schutz und Geborgenheit im Du und in entsprechender körperlicher Nähe.

In der letzten Strophe wird jedoch eine Wendepunkt erreicht; die Seelen der Liebenden leben von Verrat. Möglicherweise bezieht sich diese Aussage auf die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit menschlicher Beziehungen und Gefühle.

Die Sprache des Gedichts ist geprägt von starken Metaphern und bildhaften Ausdrücken. Insbesondere das Motiv der Küste und des Meeres wird häufig eingesetzt, um die lyrische Situation und die Gefühle des lyrischen Ichs zu verdeutlichen. Die Metapher der Blütenblätter um die Staubgefäße in der dritten Strophe verdeutlicht die innige Nähe und Verbundenheit der Liebenden. Der expressive, emotionale Ausdruck des Gedichts lässt eine intensive, subjektive Perspektive erkennen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Östliches Taglied“ ein intimes und tief emotionales Gedicht ist, das tiefe Sehnsucht und innige Liebe ausdrückt, aber auch thematisiert, wie diese Gefühle durch Unsicherheit und Fremdheit in Frage gestellt und bedroht werden.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Östliches Taglied“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rainer Maria Rilke. Der Autor Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Im Jahr 1906 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 17 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 117 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke sind „Abend“, „Abend in Skaane“ und „Absaloms Abfall“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Östliches Taglied“ weitere 338 Gedichte vor.

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