Absaloms Abfall von Rainer Maria Rilke

1	Sie hoben sie mit Geblitz:
2	der Sturm aus den Hörnern schwellte
3	seidene, breitgewellte
4	Fahnen. Der herrlich Erhellte
5	nahm im hochoffenen Zelte,
6	das jauchzendes Volk umstellte,
7	zehn Frauen in Besitz,
8	die (gewohnt an des alternden Fürsten
9	sparsame Nacht und Tat)
10	unter seinem Dürsten
11	wogten wie Sommersaat.
12	Dann trat er heraus zum Rate,
13	wie vermindert um nichts,
14	und jeder, der ihm nahte,
15	erblindete seines Lichts.
16	So zog er auch den Heeren
17	voran wie ein Stern dem Jahr;
18	über allen Speeren
19	wehte sein warmes Haar,
20	das der Helm nicht faßte
21	und das er manchmal haßte,
22	weil es schwerer war
23	als seine reichsten Kleider.
24	Der König hatte geboten,
25	daß man den Schönen schone.
26	Doch man sah ihn ohne
27	Helm an den bedrohten
28	Orten die ärgsten Knoten
29	zu roten Stücken von Toten
30	auseinanderhaun.
31	Dann wußte lange keiner
32	von ihm, bis plötzlich einer
33	schrie: Er hängt dort hinten
34	an den Terebinthen
35	mit hochgezogenen Braun.
36	Das war genug des Winks.
37	Joab, wie ein Jäger,
38	erspähte das Haar —: ein schräger
39	gedrehter Ast: da hings.
40	Er durchrannte den schlanken Kläger,
41	und seine Waffenträger
42	durchbohrten ihn rechts und links.

Details zum Gedicht „Absaloms Abfall“

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Absaloms Abfall“ kommt aus der Feder des Schriftstellers und Poeten Rainer Maria Rilke, welcher in der Zeit von 1875 bis 1926 lebte und wirkte. Seine Lyrik kann dem Spätrealismus zugeordnet werden, ist jedoch oft von einer metaphysischen Tiefe und philosophischen Herangehensweise geprägt.

Beim ersten Eindruck des Gedichts zeigen sich sowohl intensive als auch kontrastreiche Bilder, die das lyrische Ich lebendig und dramatisch schildert. Der Inhalt beschreibt die biblische Geschichte von Absaloms Rebellion gegen seinen Vater, den König David, und dessen tragischen Tod.

Rilke stellt diese historische Szene aus dem Alten Testament ausdrücklich dar und betont dabei zum einen die majestätische und gleichzeitig verhängnisvolle Erscheinung Absaloms - seinen glorreichen Aufstieg und seinen brutalen Fall. Absalom wird mit hellem Licht, hissenden Fahnen und der Erregung der Menschenmenge inszeniert. Sein Haar spielt eine besondere Rolle im Gedicht, es dient als Symbol für seine Stärke und Schönheit, aber es ist auch ihr Fluch, der ihn in den Tod führt.

Rilke benutzt in seiner Lyrik eine bildhafte, mehrschichtige Sprache, mit einer oft metaphorischen und symbolhaften Aussagekraft. Formal gesehen, variiert die Strophenlänge des Gedichts und scheint keinen regelmäßigen Rhythmus oder Reimschema zu verfolgen, was ein Kennzeichen der freien Verse ist. Der Wechsel von direkten Beschreibungen und metaphorischen Bildern kann hier als Stilmittel zur Erzeugung von Dramatik und Emotionalität interpretiert werden.

Zusammenfassend besteht das zentrale Thema von Rilkes „Absaloms Abfall“ in der Darstellung der menschlichen Hybris, die sich in Absaloms Aufstand gegen seinen Vater und seiner tödlichen Eitelkeit zeigt. Es ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Rilke biblischen Geschichten eine zeitgenössische, metaphysische und tiefgründige Deutung gibt und sie in seine poetische Vision verwandelt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Absaloms Abfall“ ist Rainer Maria Rilke. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1918 zurück. Erschienen ist der Text in Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 179 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 42 Versen. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Advent“, „Allerseelen“ und „Als ich die Universität bezog“. Zum Autor des Gedichtes „Absaloms Abfall“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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