Elegie von Johann Christian Friedrich Hölderlin

Täglich geh ich heraus und such ein Anderes immer,
Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands;
Droben die kühlenden Höhn, die Schatten alle besuch
ich,
Und die Quellen; hinauf irret der Geist und hinab,
Ruh erbittend; so flieht das getroffene Wild in die
Wälder,
Wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht;
Aber nimmer erquickt sein grünes Lager das Herz
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ihm
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Wieder und schlummerlos treibt es der Stachel
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umher.
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Nicht die Wärme des Lichts und nicht die Kühle der
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Nacht hilft
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Und in Wogen des Stroms taucht es die Wunden
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umsonst.
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Ihm bereitet umsonst die Erd ihr stärkendes Heilkraut
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Und sein schäumendes Blut stillen die Lüftchen
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umsonst.
 
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Wehe! so ists auch, so, ihr Todesgötter! vergebens,
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Wenn ihr ihn haltet und fest habt den bezwungenen
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Mann,
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Wenn ihr einmal hinab in eure Nacht ihn gerissen,
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Dann zu suchen, zu flehn, oder zu zürnen mit euch,
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Oder geduldig auch wohl in euren Banden zu wohnen
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Und mit Lächeln von euch hören das furchtbare
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Lied.
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Denn bestehn, wie anderes, muß in seinem Gesetze,
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Immer altern und nie enden das schaurige Reich.
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Aber noch immer nicht, o meine Seele! noch kannst
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dus
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Nicht gewohnen und träumst mitten im eisernen
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Schlaf.
 
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Tag der Liebe! scheinest du auch den Toten, du
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goldner!
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Bilder aus hellerer Zeit, leuchtet ihr mir in die
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Nacht?
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Liebliche Gärten, seid, ihr abendrötlichen Berge,
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Seid willkommen, und ihr, schweigende Pfade des
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Hains.
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Zeugen himmlischen Glücks! und ihr, allschauende
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Sterne,
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Die mir damals oft segnende Blicke gegönnt!
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Euch, ihr Liebenden, auch, ihr schönen Kinder des
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Frühlings,
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Stille Rosen und euch, Lilien! nenn ich noch oft,
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Ihr Vertrauten! ihr Lebenden all, einst nahe dem
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Herzen,
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Einst wahrhaftiger, einst heller und schöner gesehn!
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Tage kommen und gehn, ein Jahr verdränget das
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andre,
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Wechselnd und streitend; so tost furchtbar vorüber
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die Zeit
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Über sterblichem Haupt, doch nicht vor seligen
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Augen,
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Und den Liebenden ist anderes Leben gewährt.
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Denn sie alle, die Tag und Stunden und Jahre der
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Sterne
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Und der Menschen, zur Lust anders und anders
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bekränzt,
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Fröhlicher, ernster, sie all, als echte Kinder des
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Aethers,
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Lebten, in Wonne vereint, innig und ewig um uns.
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Aber wir, unschädlich gesellt, wie die friedlichen
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Schwäne,
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Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt,
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Niedersehn in die Wasser, wo silberne Wolken sich
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spiegeln,
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Und das himmlische Blau unter den Schiffenden
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wallt,
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So auf Erden wandelten wir. Und drohte der Nord
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auch,
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Er, der Liebenden Feind, sorgenbereitend, und fiel
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Von den Ästen das Laub und flog im Winde der
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Regen,
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Lächelten ruhig wir, fühlten den Gott und das Herz
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Unter trautem Gespräch, im hellen Seelengesange,
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So im Frieden mit uns kindlich und selig allein.
 
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Ach! wo bist du, Liebende, nun? Sie haben mein
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Auge
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Mir genommen, mein Herz hab ich verloren mit ihr.
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Darum irr ich umher, und wohl, wie die Schatten, so
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muß ich
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Leben und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.
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Danken möcht ich, aber wofür? verzehret das Letzte
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Selbst die Erinnerung nicht? nimmt von der Lippe
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denn nicht
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Bessere Rede mir der Schmerz, und lähmet ein Fluch
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nicht
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Mir die Sehnen und wirft, wo ich beginne, mich
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weg?
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Daß ich fühllos sitze den Tag und stumm, wie die
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Kinder,
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Nur vom Auge mir kalt öfters die Tropfe noch
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schleicht,
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Und in schaudernder Brust die allerwärmende Sonne
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Kühl und fruchtlos mir dämmert, wie Strahlen der
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Nacht,
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Sonst mir anders bekannt! O Jugend! und bringen
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Gebete
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Dich nicht wieder, dich nie? führet kein Pfad mich
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zurück?
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Soll es werden auch mir, wie den Tausenden, die in
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den Tagen
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Ihres Frühlings doch auch ahndend und liebend
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gelebt,
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Aber am trunkenen Tag von den rächenden Parzen
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ergriffen,
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Ohne Klag und Gesang heimlich hinuntergeführt,
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Dort im allzunüchternen Reich, dort büßen im
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Dunkeln,
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Wo bei trügrischem Schein irres Gewimmel sich
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treibt,
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Wo die langsame Zeit bei Frost und Dürre sie zählen,
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Nur in Seufzern der Mensch noch die Unsterblichen
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preist?
 
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Aber o du, die noch am Scheidewege mir damals,
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Da ich versank vor dir, tröstend ein Schöneres wies,
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Du, die Großes zu sehn und die schweigenden Götter
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zu singen,
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Selber schweigend mich einst stillebegeisternd
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gelehrt,
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Götterkind! erscheinest du mir und grüßest, wie einst,
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mich,
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Redest wieder, wie einst, Leben und Frieden mir zu?
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Siehe! weinen vor dir und klagen muß ich, wenn
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schon noch
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Denkend der edleren Zeit, dessen die Seele sich
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schämt.
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Denn zu lange, zu lang auf matten Pfaden der Erde
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Bin ich, deiner gewohnt, einsam gegangen indes,
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O mein Schutzgeist! denn wie der Nord die Wolke
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des Herbsttags
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Scheuchten von Ort zu Ort feindliche Geister mich
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fort.
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So zerrann mein Leben, ach! so ists anders geworden,
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Seit, o Liebe, wir einst gingen am ruhigen Strom.
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Aber dich, dich erhielt dein Licht, o Heldin! im
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Lichte,
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Und dein Dulden erhielt liebend, o Himmlische!
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dich.
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Und sie selbst, die Natur, und ihre melodischen
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Musen
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Sangen aus heimischen Höhn Wiegengesänge dir zu.
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Noch, noch ist sie es ganz! noch schwebt vom Haupte
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zur Sohle,
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Stillhinwandelnd, wie sonst, mir die Athenerin vor.
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Selig, selig ist sie! denn es scheut die Kinder des
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Himmels
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Selbst der Orkus, es rinnt, gleich den Unsterblichen
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selbst,
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Ihnen der milde Geist von heitersinnender Stirne,
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Wo sie auch wandeln und sind, segnend und sicher
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herab.
 
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Darum möcht, ihr Himmlischen! euch ich danken und
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endlich
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Tönet aus leichter Brust wieder des Sängers Gebet.
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Und, wie wenn ich mit ihr, auf Bergeshöhen mit ihr
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stand,
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Wehet belebend auch mich, göttlicher Othem mich
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an.
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Leben will ich denn auch! schon grünen die Pfade der
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Erde
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Schöner und schöner schließt wieder die Sonne sich
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auf.
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Komm! es war, wie ein Traum! die blutenden Fittige
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sind ja
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Schon genesen, verjüngt wachen die Hoffnungen all.
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Dien im Orkus, wem es gefällt! wir, welche die stille
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Liebe bildete, wir suchen zu Göttern die Bahn.
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Und geleitet ihr uns, ihr Weihestunden! ihr ernsten,
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Jugendlichen! o bleibt, heilige Ahnungen, ihr,
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Fromme Bitten, und ihr Begeisterungen, und all ihr
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Schönen Genien, die gerne bei Liebenden sind,
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Bleibet, bleibet mit uns, bis wir auf seligen Inseln,
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Wo die Unsern vielleicht, Dichter der Liebe, mit
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uns,
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Oder auch, wo die Adler sind, in Lüften des Vaters,
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Dort, wo die Musen, woher all die Unsterblichen
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sind,
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Dort uns staunend und fremd und bekannt uns wieder
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begegnen,
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Und von neuem ein Jahr unserer Liebe beginnt.

Details zum Gedicht „Elegie“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
183
Anzahl Wörter
1035
Entstehungsjahr
1770 - 1843
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht „Elegie“ stammt von Johann Christian Friedrich Hölderlin, einem bedeutenden deutschen Dichter der Romantik, der von 1770 bis 1843 lebte.

Beim ersten Lesen wirkt das Gedicht melancholisch und weist eine tiefe emotionale Tiefe auf. Es scheint, dass das lyrische Ich mit Gefühlen von Verlust, Sehnsucht und Kummer konfrontiert ist. Auch scheint eine Konfrontation mit der Endlichkeit des menschlichen Daseins und dem Tod deutlich zu werden.

Das Gedicht präsentiert eine Reise des lyrischen Ichs, die sowohl physisch als auch emotional zu sein scheint. Anfangs wird dargestellt, wie das Ich sein Heimatland durchstreift, nach etwas sucht und gleichzeitig von Unruhe und Kummer getrieben wird. Die zweite Strophe spricht von den „Todesgöttern“ und der Unausweichlichkeit des Todes. Im weiteren Verlauf richtet sich das lyrische Ich an „Tage der Liebe“, erinnert sich an geliebte Menschen, Plätze und emotionale Zustände. Es gibt eine starke Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe und verlorenen Zeiten. Dies führt zu einem Gefühl von Verlust und Verzweiflung beim lyrischen Ich. Im letzten Teil spürt das Ich jedoch wieder Hoffnung und will der Dunkelheit entfliehen, indem es neue Lebenskraft und Tatendrang schöpft.

Die Form des Gedichts ist eine Elegie, ein Gedicht, das oft Klage und Trauer zum Ausdruck bringt. Die Sprache des Gedichts ist recht komplex und emotional aufgeladen, geprägt von starken Bildern, Metaphern und Personifikationen. Es wird auch auf mythologische Figuren angespielt, womit der Dichter die Universalthemen von Leben, Liebe und Tod hervorhebt.

Insgesamt bietet das Gedicht eine tiefgründige und komplexe Darstellung menschlicher Emotionen, von Verlust und Sehnsucht, von Liebe und Trauer, und von Leben und Tod. Es zeigt, wie sich das lyrische Ich durch diese emotionalen Zustände hindurch navigiert und versucht, trotz allem wieder Hoffnung und Lebenswillen zu finden.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Elegie“ des Autors Johann Christian Friedrich Hölderlin. Der Autor Johann Christian Friedrich Hölderlin wurde 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1786 und 1843. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 1035 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 183 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Johann Christian Friedrich Hölderlin ist auch der Autor für Gedichte wie „Dem Genius der Kühnheit“, „Der Gott der Jugend“ und „Der Winkel von Hahrdt“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Elegie“ weitere 181 Gedichte vor.

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