Liebesvorzeichen von Eduard Mörike

Ich stand am Morgen jüngst im Garten
Vor dem Granatbaum sinnend still;
Mir war, als müßt ich gleich erwarten,
Ob er die Knospe sprengen will.
 
Sie aber schien es nicht zu wissen,
Wie mächtig ihr die Fülle schwoll,
Und daß sie in den Feuerküssen
Des goldnen Tages brennen soll.
 
Und dort am Rasen lag Jorinde;
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Wie schnell bin ich zum Gruß bereit,
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Indes sie sich nur erst geschwinde
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Den Schlummer aus den Augen streut!
 
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Dann leuchtet dieser Augen Schwärze
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Mich an in lieb- und guter Ruh,
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Sie hört dem Mutwill meiner Scherze
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Mit kindischem Verwundern zu.
 
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Dazwischen dacht ich wohl im stillen:
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Was hast du vor? sie ist ein Kind!
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Die Lippen, die von Reife quillen,
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Wie blöde noch und fromm gesinnt!
 
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Fürwahr, sie schien es nicht zu wissen,
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Wie mächtig ihr die Fülle schwoll,
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Und daß sie in den Feuerküssen
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Des kecksten Knaben brennen soll.
 
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Still überlegt ich auf und nieder,
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Und ging so meiner Wege fort;
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Doch fand der nächste Morgen wieder
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Mich zeitig bei dem Bäumchen dort.
 
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Mein! wer hat ihm in wenig Stunden
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Ein solches Wunder angetan?
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Die Flammenkrone aufgebunden?
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Und was sagt mir dies Zeichen an?
 
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Ich eile rasch den Gang hinunter,
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Dort geht sie schon im Morgenstrahl;
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Und bald, o Wunder über Wunder!
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Wir küßten uns zum erstenmal.
 
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Nun trieb der Baum wohl Blüt auf Blüte
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Frisch in die blaue Luft hinaus,
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Und noch, seitdem er lang verglühte,
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Ging uns das Küssen nimmer aus.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Liebesvorzeichen“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
240
Entstehungsjahr
1804 - 1875
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Liebesvorzeichen“ stammt von dem deutschen Lyriker Eduard Mörike, der im 19. Jahrhundert lebte. Er gehört zur literarischen Epoche des Biedermeiers und des Realismus und gilt als einer der bedeutendsten deutschen Lyriker dieser Zeiten.

Beim ersten Durchlesen fällt die romantische und naturliebende Atmosphäre des Gedichts auf. Es erzählt von Erwartung, Unsicherheit und von schönen Momenten. Hauptcharaktere sind das „lyrische Ich“, ein Granatbaum und Jorinde, zu der das lyrische Ich eine romantische Anziehung verspürt.

Das Gedicht erzählt die Geschichte einer aufkeimenden Liebe. Zu Beginn steht das lyrische Ich im Garten und betrachtet einen Granatbaum. Es wartet gespannt, ob der Baum bald zu blühen beginnt und interpretiert das als ein Liebesvorzeichen. Dann beobachtet es Jorinde, die auf dem Rasen liegt und gerade erst aufwacht. Sie interagieren miteinander, doch das lyrische Ich ist unsicher. Es sieht, dass Jorinde noch jung und unschuldig ist, und überlegt sich, was es tun soll. Am nächsten Morgen kehrt das lyrische Ich zurück zum Baum und entdeckt, dass er blüht. Dies interpretiert das lyrische Ich als ein Zeichen für seine aufkeimende Liebe zu Jorinde. Schließlich küssen sie sich und der Akt des Küssens geht seither nicht zu Ende.

Das Reimschema ist durchgehend AABB, die Strophen bestehen aus vier Versen, die Sprache istgehoben, poetisch und voller Naturmetaphern, was typisch ist für die Epoche des Biedermeiers. Das lyrische Ich nutzt den Blühvorgang des Baumes als Metapher für das Erwachen seiner eigenen Gefühle und die Entwicklung der Beziehung zu Jorinde. Die starken Kontraste zwischen den vorherrschenden Farben (Schwarz der Augen, die Flammenkrone des Baumes) und die Wiederholungen von bestimmten Schlüsselstellen (die Fülle und Feuerküsse) tragen zur dramatischen und intensiven Stimmung des Gedichts bei.

Zusammenfassend ist das Gedicht eine romantische Darstellung einer aufkeimenden Liebe, mit dem Granatbaum als bedeutungsvolles Vorzeichen und Symbol für Liebe und Leidenschaft. Es unterstreicht das klassische Bild des Biedermeiers - zurückgezogenes, aber dennoch intensives Erleben von Gefühlen in Bezug auf Natur und Liebe.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Liebesvorzeichen“ des Autors Eduard Mörike. Im Jahr 1804 wurde Mörike in Ludwigsburg geboren. Im Zeitraum zwischen 1820 und 1875 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Biedermeier zu. Bei Mörike handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 240 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 40 Versen. Der Dichter Eduard Mörike ist auch der Autor für Gedichte wie „Gebet“, „Im Frühling“ und „Septembermorgen“. Zum Autor des Gedichtes „Liebesvorzeichen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 171 Gedichte vor.

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