An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang von Eduard Mörike

Eduard Mörike: Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 1, S. 9–10

O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!
Welch neue Welt bewegest du in mir?
Was ists, daß ich auf einmal nun in dir
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?
 
Einem Kristall gleicht meine Seele nun,
Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen;
Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn,
Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen,
Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft
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Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.
 
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Bei hellen Augen glaub ich doch zu schwanken;
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Ich schließe sie, daß nicht der Traum entweiche.
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Seh ich hinab in lichte Feenreiche?
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Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken
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Zur Pforte meines Herzens hergeladen,
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Die glänzend sich in diesem Busen baden,
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Goldfarbgen Fischlein gleich im Gartenteiche?
 
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Ich höre bald der Hirtenflöten Klänge,
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Wie um die Krippe jener Wundernacht,
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Bald weinbekränzter Jugend Lustgesänge;
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Wer hat das friedenselige Gedränge
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In meine traurigen Wände hergebracht?
 
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Und welch Gefühl entzückter Stärke,
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Indem mein Sinn sich frisch zur Ferne lenkt!
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Vom ersten Mark des heutgen Tags getränkt,
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Fühl ich mir Mut zu jedem frommen Werke.
 
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Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht,
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Der Genius jauchzt in mir! Doch sage,
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Warum wird jetzt der Blick von Wehmut feucht?
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Ists ein verloren Glück, was mich erweicht?
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Ist es ein werdendes, was ich im Herzen trage?
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– Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn:
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Es ist ein Augenblick, und Alles wird verwehn!
 
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Dort, sieh, am Horizont lüpft sich der Vorhang schon!
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Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn;
36 
Die Purpurlippe, die geschlossen lag,
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Haucht, halbgeöffnet, süße Atemzüge:
38 
Auf einmal blitzt das Aug, und, wie ein Gott, der Tag
39 
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
39
Anzahl Wörter
270
Entstehungsjahr
nach 1820
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang“ ist von dem Autor Eduard Mörike, der von 1804 bis 1875 lebte. Er zählt zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Literatur des Biedermeier, einer Epoche, die von etwa 1815 bis 1848 andauerte.

Beim ersten Lesen erweckt das Gedicht einen Eindruck von stiller, introspektiver Schönheit. Es handelt von einem lyrischen Ich, das seinen inneren Zustand in den frühen Stunden eines Wintermorgens reflektiert, kurz bevor die Sonne aufgeht.

Inhaltlich betrachtet, steht das lyrische Ich bei Tagesanbruch in ruhiger Betrachtung seiner Umwelt und seines Inneren. Es fühlt sich erfüllt und emotional bewegt, vergleicht seine Seele mit einem unberührten Kristall und spricht von anstehenden Wundern. Mit geschlossenen Augen nimmt es die inneren Bilder und Gedanken wahr, spürt die Melodie des Lebens und empfindet ein starkes Gefühl der Inspiration und des Mutes. Dennoch wird es auch von Wehmut berührt, reflektiert über verlorene und künftige Glücksmomente, bevor es schließlich den Augenblick akzeptiert und den aufgehenden Tag begrüßt.

Formal ist das Gedicht in sieben Strophen unterschiedlicher Länge unterteilt, von vier bis sieben Versen. Die Sprache ist hoch poetisch, mit romantischen Metaphern und lebhaften Bildern. Einige Aussagen sind in Frageform gestellt, was die Reflektiertheit und Selbstbefragung des lyrischen Ichs unterstreicht.

In Bezug auf die Aussage des lyrischen Ichs lässt sich interpretieren, dass es die flüchtige, sich ständig verändernde Natur des Lebens und die Möglichkeit der persönlichen Erneuerung durch die Anerkennung und Wertschätzung des gegenwärtigen Moments thematisiert. Die Verwendung des Kristalls als Metapher für die Seele deutet auf Reinheit, Klarheit und Potenzial hin, während die Wehmut ein Gefühl der Melancholie und des Verlusts aufgreift, aber auch Raum für zukünftige Freuden und Erfolge lässt.

Das lyrische Ich fühlt eine Art von „sanfter Wollust“ seines Daseins und stellt sich vor, dass es Fähigkeiten für „jedes fromme Werke“ hat. Es unterstreicht damit die Bedeutung des Moments, die Schönheit des Jetzt und schlägt eine ausgewogene Haltung zwischen Freude und Melancholie vor. Mit dem Aufgang der Sonne endet das Gedicht schließlich in einer herausragend positiven und lebensbejahenden Weise.

Über das gesamte Gedicht hinweg verwendet Mörike eine äußerst raffinierte und emotionale Sprache, um die vielschichtige innere Landschaft des lyrischen Ichs und die äußere natürliche Landschaft eines frühen Wintermorgens darzustellen. Jede Strophe enthält ihre eigene Atmosphäre und Stimmung, die sich nahtlos in die nächste überleitet und ein umfassendes Bild von der introspektiven Reise des lyrischen Ichs von der Dunkelheit in das Licht des neuen Tages zeichnet.

Weitere Informationen

Das Gedicht „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Eduard Mörike. Der Autor Eduard Mörike wurde 1804 in Ludwigsburg geboren. In der Zeit von 1820 bis 1875 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Biedermeier zuordnen. Bei Mörike handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 39 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 270 Worte. Eduard Mörike ist auch der Autor für Gedichte wie „Gebet“, „Im Frühling“ und „Septembermorgen“. Zum Autor des Gedichtes „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang“ haben wir auf abi-pur.de weitere 171 Gedichte veröffentlicht.

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