Seepferdchen von Joachim Ringelnatz

Als ich noch ein Seepferdchen war,
Im vorigen Leben,
Wie war das wonnig, wunderbar
Unter Wasser zu schweben.
In den träumenden Fluten
Wogte, wie Güte, das Haar
Der zierlichsten aller Seestuten,
Die meine Geliebte war.
Wir senkten uns still oder stiegen,
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Tanzten harmonisch um einand,
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Ohne Arm, ohne Bein, ohne Hand,
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Wie Wolken sich in Wolken wiegen.
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Sie spielte manchmal graziöses Entfliehn,
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Auf daß ich ihr folge, sie hasche,
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Und legte mir einmal im Ansichziehn
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Eierchen in die Tasche.
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Sie blickte traurig und stellte sich froh,
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Schnappte nach einem Wasserfloh,
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Und ringelte sich
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An einem Stengelchen fest und sprach so:
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Ich liebe dich!
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Du wieherst nicht, du äpfelst nicht,
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Du trägst ein farbloses Panzerkleid
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Und hast ein bekümmertes altes Gesicht,
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Als wüßtest du um kommendes Leid.
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Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnaß!
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Wann war wohl das?
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Und wer bedauert wohl später meine restlichen Knochen?
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Es ist beinahe so, daß ich weine –
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Lollo hat das vertrocknete, kleine
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Schmerzverkrümmte Seepferd zerbrochen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25 KB)

Details zum Gedicht „Seepferdchen“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
31
Anzahl Wörter
156
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Seepferdchen“ wurde von Joachim Ringelnatz verfasst, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettisten, der von 1883 bis 1934 lebte. Die Zeit, in der Ringelnatz schrieb, war geprägt von gesellschaftlichen Umbrüchen - vom Kaiserreich, über die Weimarer Republik bis zum Dritten Reich.

Beim ersten Lesen wird man von Ringelnatz' humorvoller und bildhafter Sprache zum Lachen gebracht, aber auch etwas zum Nachdenken angeregt. Der Autor erzählt die Geschichte eines Seepferdchens in einer vergangenen Existenz und lässt das lyrische Ich dabei von seiner Liebe zu einer Seestute erzählen. Es handelt sich hierbei also um eine Liebesgeschichte, die zugleich komisch und rührend ist.

Das Gedicht beginnt damit, dass das lyrische Ich von seiner früheren Existenz als Seepferdchen erzählt. Es schildert sein Leben unter Wasser und seine Romanze mit einer Seestute, die sich in den Ozean einfügte, eine friedliche und harmonische Existenz. Sie haben eine tägliche Routine der Tanzbewegungen und des harmlosen Neckens. Schließlich wird es jedoch melancholisch und thematisiert Verlust und Trauer, vor allem in den letzten Zeilen, wo es sein gegenwärtiges Leben als zerbrochenes Seepferdchen in der Hand einer Person namens Lollo darstellt.

Formal besteht das Gedicht aus 31 Versen mit unregelmäßigem Reimschema. Manchmal werden Reime verwendet (wonnig/wunderbar, Haar/war), manchmal nicht (schweben/Leben). Die Sprache ist farbenfroh, bildhaft und manchmal überraschend. Trotz des Humors wird klar, dass sich das lyrische Ich nach einer vergangenen, idealisierten Existenz sehnt und die gegenwärtige Realität als schmerzhaft empfindet. Lollo, die das Seepferdchen zerbrochen hat, repräsentiert vielleicht die harte Realität, die das fragile Glück der Vergangenheit zerbrochen hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Joachim Ringelnatz' „Seepferdchen“ eine faszinierende Vermischung von Humor und Melancholie ist. Es erzählt eine rührende Liebesgeschichte und ist gleichzeitig eine Reflexion über die Vergänglichkeit des Glücks und die Unausweichlichkeit von Verlust und Schmerz.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Seepferdchen“ des Autors Joachim Ringelnatz. Im Jahr 1883 wurde Ringelnatz in Wurzen geboren. 1928 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 156 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 31 Versen. Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „Afrikanisches Duell“, „Alone“ und „Alte Winkelmauer“. Zum Autor des Gedichtes „Seepferdchen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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