Schönheitssinn von Carl Streckfuß

Im Herzen ruhet tief verborgen,
Was jeder spürt, und keiner kennt.
Es regt sich, wenn am jungen Morgen
In Gold des Aethers Blau entbrennt.
Wir fühlen’s, wenn der Abend sinket,
Wenn sich die braune Nacht uns naht,
Wenn Luna’s sanftes Auge winket,
Umgaukelt’s der Gefühle Pfad.
 
Es ist ein wunderbares Wesen,
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Und scheint aus Aethersduft gewebt,
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Ein Räthsel — keiner kann es lösen,
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Was auch die Sehnsucht sich bestrebt.
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Wenn seine Zauber um uns schweifen,
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Sucht es umsonst der irre Blick,
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Die Sehnsucht heißt, den Schatten greifen,
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Dann tritt er geistergleich zurück.
 
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Doch treibt ein schmerzlich süßes Streben
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Uns fort, nach dem Geheimen hin,
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Es anzuschaun in That und Leben,
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Und deutlich dargestellt dem Sinn.
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Oft glauben wir, es zu erblicken,
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Wenn uns der Schönheit Zauber winkt.
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Dann füllt uns himmlisches Entzücken,
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Und jeden Schmerzes Spur versinkt.
 
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Wenn hergesandt von Himmelshöhen,
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Die Schönheit der Gestalt sich zeigt,
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Wenn wir des Künstlers Werke sehen,
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Dem sich die Grazie liebend neigt,
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Wenn bey des heil’gen Dichters Tönen,
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Das Herz mit Wonne sich erfüllt,
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Dann schweigt des Busens banges Sehnen,
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Und unser Streben ist gestillt.
 
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Der Ruhe Rosenlippe neiget
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Sich dann zu uns mit leisem Kuß,
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Und aus des Herzens Tiefen steiget
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Melodisch guter Geister Gruß.
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Dann drücken nicht der Erde Lüfte
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Des Geistes leichte Schwingen mehr.
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Es wehen lieblich reine Düfte
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Aus unbekannten Welten her.
 
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Das Höchste scheint sich zu entfalten,
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Die Gottheit liebend uns zu nahn,
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Und über unser Seyn zu walten,
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Zu ebnen unsers Lebens Bahn.
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Sie scheint zu sich uns zu erheben,
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Erhellt des Grabes öde Nacht,
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Uns glänzt ein neues, schönes Leben,
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Das die Vergänglichkeit verlacht.
 
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So stillt das Schöne unser Streben,
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Das jeder spürt und keiner kennt,
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Deß Zauber ewig uns umschweben,
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Das stets uns ruft, und nie sich nennt,
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Das nie gestillte herbe Schmerzen,
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Dem, der sich selbst verlor, gebiert,
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Und das die kindlich treuen Herzen
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Hinauf zum Thron der Gottheit führt.
 
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Und nicht vergehn des Schönen Spuren,
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Wenn es der Gegenwart entflieht,
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Denn wie durch Sonnenglanz den Fluren
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Ein lockig junger Lenz entblüht,
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So keimt der höchsten Menschheit Blüthe
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Nur bey des Schönen Strahl hervor;
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Die Kraft, die einmal sie durchglühte,
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Treibt sie zum Stamme hoch empor.
 
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So wuchert in die fernsten Zeiten
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Der Schönheit süßer Anblick fort;
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So reiche Segnungen verbreiten
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Des Dichters Bild und Ton und Wort;
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So ist, was du, o Kunst, geboren,
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Was die Begeisterung erzeugt,
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Für die Unsterblichkeit erkoren,
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Und wird von keiner Zeit gebeugt.
 
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Als noch des Himmels blaue Ferne
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Den Thron Unsterblicher umschloß,
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Als frommer Glaube durch die Sterne
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Des regen Lebens Odem goß,
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Da jauchzten laut die ew’gen Zecher,
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Wenn Hebe ihre Blicke fand,
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Und höhre Wonne gab der Becher,
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Gereicht von Ganimedes Hand.
 
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Wohin nur Amors Augen flogen,
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Da wich vor seinem Blick die Nacht,
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Und nicht den Pfeilen, nicht dem Bogen,
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Der Schönheit dankt’ er seine Macht.
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Er wollt’ es, und in Lieb’ entglühte
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Selbst Juno’s nie gebeugter Stolz.
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Du lächeltest, o Aphrodite,
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Und Jovis düstrer Ernst zerschmolz.
 
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Du, der die Grazien gelächelt,
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Vor allen hold, Aspasia,
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Wenn deines Nahmens Wohllaut fächelt,
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Sind uns noch süße Träume nah.
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Noch schlägt, entglüht von schönerm Feuer,
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Bey seinem Laut das Herz empor,
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Und aus der Zeiten düsterm Schleyer
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Glänzt deine Wohlgestalt hervor.
 
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Noch lebt der greise Mäonide,
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Noch blühet seiner Schöpfung Pracht,
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Noch wird das Herz bey Pindars Liede
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Zu hohen Thaten angefacht.
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In ewig schönen Flammen glühet
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Noch Sapho’s mächtiges Gefühl,
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Und jede düstre Sorge fliehet
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Noch bey des frohen Tejers Spiel.
 
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Und wie die herrlichen Gestalten.
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Die Aeschils Genius gebar,
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Mit Majestät vorüber wallten
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Vor der erstaunten Griechen Schaar,
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So gleiten sie mit hoher Würde
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Noch jetzt vor unserm Sinn vorbey,
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Erleichtern unsers Lebens Bürde,
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Und machen das Gebundne frey.
 
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Noch labet uns Blandusia’s Quelle,
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Wenn Trübsinn unser Blut vergällt,
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Noch sehn wir auf des Lebens Welle
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Geschaukelt Maro’s frommen Held.
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Im magischen Gewirr erscheinet
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Noch der Verwandelungen Schwarm.
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Noch, wenn Ovid im Pontus weinet,
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Ehrt unsre Thräne seinen Harm.
 
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Wenn in der Zeiten regem Streben
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Der Völker Ruhm die Welt vergaß,
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So werdet ihr doch ewig leben,
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Praxiteles und Phidias.
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Zwar eure Werke sind versunken,
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Doch ist ihr Wirken nicht zerstört,
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Noch wird von eures Geistes Funken
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Des Künstlers Seele neu verklärt.
 
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Noch treiben eure hohen Nahmen,
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O Zeuxis, o Parrhasius,
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Zur Blüth’ empor des Schönen Saamen,
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Sie schenken uns der Frucht Genuß.
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Sie weichen nicht der Zeiten Fluthen,
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Kein Schicksal hemmet ihre Macht,
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Sie lodern noch in Guido’s Gluthen,
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Sie leuchten aus Correggio’s Nacht.
 
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So wuchert in die fernsten Zeiten
138 
Der Schönheit süßer Anblick fort,
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So reiche Segnungen verbreiten
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Des Dichters Bild und Ton und Wort.
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So ist, was du, o Kunst, geboren,
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Was die Begeisterung erzeugt,
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Für die Unsterblichkeit erkoren,
144 
Und wird von keiner Zeit gebeugt.
 
145 
Dort, wo zu grausen Ueberhängen
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Sich auf die Felsenmasse thürmt,
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Wo durch die Wände, die ihn drängen,
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Der Gießbach wild hernieder stürmt,
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Wo kärglich klimmend nur der kühne
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Epheu dem Boden sich entstahl,
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Dort führt, bedeckt von seiner Grüne,
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Ein Pfad zu einem schönen Thal.
 
153 
Es wird von hoher Linden Zweigen
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Mit süßer Dämmerung umgraut,
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Ihm störet nie der Ruhe Schweigen
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Der Stürme schreckenvoller Laut;
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Nur den Gesang der Nachtigallen
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Lallt Echo’s zarte Stimme nach,
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Ein Zephyr heißt die Blüthen fallen,
160 
Und schaukelt sich im grünen Dach.
 
161 
Da blühn aus milder Wiesen Matten
162 
Die Blumen üppig schön empor,
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Die nie vor Phöbus Strahl ermatten;
164 
Dort bricht ein Silberquell hervor.
165 
Er spielt mit lieblichem Gekose
166 
Hin durch der Auen frisches Grün,
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Die Blumen nicken seinem Schooße,
168 
Und sehn entzückt, wie schön sie blühn.
 
169 
Hier, wo des jungen Grases Keime
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Vor mir kein Menschenfußtritt bog,
171 
Wo durch die dunkelhellen Räume
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Noch nie der Ton der Klage flog,
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Wo tosend nie des Lehens Welle
174 
An rauhen Felsen sich ergießt.
175 
Wo sie so sanft und silberhelle,
176 
Wie aus der dunkeln Quelle fließt;
 
177 
Hier will ich einen Altar gründen,
178 
Und ihn dem Dienst des Schönen weihn,
179 
Hier soll des Lenzes Wehn mich finden,
180 
Verborgen, ungestört, allein;
181 
Zufriedenheit soll mich begleiten,
182 
Und wundersüßer Träume Lust,
183 
Es soll kein Zweifel sie bestreiten,
184 
Kein Gram bekämpfen meine Brust.
 
185 
In tiefes Schauen zu versenken
186 
Den reinen Blick, den reinen Sinn,
187 
Mit Harmonie das Herz zu tränken,
188 
Sey meiner Einsamkeit Gewinn;
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Und reich an hohen Idealen,
190 
Die ihre Götterbrust genährt,
191 
Wird mir die Kunst entgegen strahlen.
192 
Die nur die reinen Herzen hört.
 
193 
Von ihr wird jeder Schleyer fallen,
194 
Und das Geheimste werd’ ich sehn,
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In allen ihren Reizen, allen,
196 
Wird die Geliebte vor mir stehn.
197 
Ihr Anblick wird mich neu beseelen,
198 
Und ihrer Götterstimme Laut
199 
Wird mächtig meine Kräfte stählen,
200 
Zu singen, was ich angeschaut.
 
201 
Wird dann der Nordwind sich erheben,
202 
Welkt dann der Blätter Reichthum ab,
203 
Dann trag’ ich in das rege Leben
204 
Zurück den leichten Wanderstab,
205 
Und aus dem unbekannten Thale
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Bring’ ich den kindlich reinen Sinn,
207 
Und meine tausend Ideale
208 
Mit zu der Menschen Hütten hin.
 
209 
Sie mit dem Leben zu versöhnen,
210 
Enthüll’ ich, was im Herzen glüht,
211 
Und lieblich zeigt das Bild des Schönen
212 
Der Wohllaut, der der Lipp’ entflieht.
213 
So still’ ich dann ihr reges Streben,
214 
Das jeder spürt und keiner kennt,
215 
Deß Zauber ewig uns umschweben,
216 
Das stets uns ruft und nie sich nennt.

Details zum Gedicht „Schönheitssinn“

Anzahl Strophen
27
Anzahl Verse
216
Anzahl Wörter
1195
Entstehungsjahr
1804
Epoche
Klassik,
Romantik

Gedicht-Analyse

Das vorgegebene Gedicht ist „Schönheitssinn“ von Carl Streckfuß, einem deutschen Schriftsteller und Poeten, der vom 20. September 1778 bis zum 26. Juli 1844 lebte. Streckfuß schrieb in der Zeit der Romantik und Weimarer Klassik und diese Epoche scheint auch in diesem Gedicht ihren Ausdruck zu finden.

Auf den ersten Blick ist das Gedicht recht lang und umfangreich, es besteht aus 27 Strophen, von denen fast jede acht Zeilen haben. Der Inhalt scheint die Schönheit in all ihren Facetten und die menschliche Suche danach zu thematisieren.

Inhaltlich geht es darüber hinaus um die Wahrnehmung und Suche nach Schönheit in der Natur, in der Kunst und in der Poesie. Das lyrische Ich spricht von einem tiefen, verborgenen Gefühl der Schönheit, das jeder in sich trägt, aber niemand wirklich kennt oder benennen kann. Es ist ein Mysterium, ein ständiges Streben und Suchen. Das lyrische Ich nimmt an, dass dieses Gefühl von der Natur, den Himmelskörpern, der Wildnis und von Künstlern, Dichtern und ihren Werken verursacht wird.

Im Hinblick auf die Form und Sprache des Gedichts folgt es einem rhythmischen Muster und verwendet viele nostalgische, romantische und leidenschaftliche Ausdrücke, um die Gefühle und Empfindungen des lyrischen Ichs himmlischer Schönheit gegenüber zu vermitteln.

Die Sprache ist gefüllt mit bildhaften Analogien und Metaphern, die dazu dienen, die Empfindungen des lyrischen Ichs zu veranschaulichen und die mystischen und unergründlichen Aspekte der Schönheit zu beleuchten. Der poetische Duktus wirkt dabei eher traditionell und ist gekennzeichnet durch gehobene und häufig altertümliche Sprache, was wiederum den zeitlichen Kontext der Romantik reflektiert.

Zusammengefasst kann man sagen, dass dieses Gedicht ein eindringlicher, leidenschaftlicher Lobgesang auf die unbekannte und ewige Schönheit ist, die in der Natur, Kunst und Poesie zu finden ist und die das menschliche Herz erfüllt und inspiriert. Es beschreibt das ständige Streben des Menschen, diese Schönheit zu suchen, zu verstehen und zu fühlen, und die tiefe Befriedigung und Freude, die daraus resultieren.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Schönheitssinn“ des Autors Carl Streckfuß. Geboren wurde Streckfuß im Jahr 1778 in Gera. Das Gedicht ist im Jahr 1804 entstanden. Wien ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Klassik oder Romantik zugeordnet werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 216 Versen mit insgesamt 27 Strophen und umfasst dabei 1195 Worte. Der Dichter Carl Streckfuß ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Kronprinzessin von Preußen“, „Auf der Reise“ und „Beruf“. Zum Autor des Gedichtes „Schönheitssinn“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 50 Gedichte vor.

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