Lumpenlied von Erich Mühsam

Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack.
Wir sind ein schäbiges Lumpenpack,
Auf das der Bürger speit.
Der Bürger blank von Stiebellack,
Mit Ordenszacken auf dem Frack,
Der Bürger mit dem Chapeau claque,
Fromm und voll Redlichkeit.
 
Der Bürger speit und hat auch recht.
Er hat Geschmeide gold und echt.­ –
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Wir haben Schnaps im Bauch.
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Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht,
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Und wer bezecht ist, der erfrecht
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Zu Dingen sich, die jener schlecht
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Und niedrig findet auch.
 
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Der Bürger kann gesittet sein,
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Er lernte Bibel und Latein. –
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Wir lernen nur den Neid.
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Wer Porter trinkt und Schampus-Wein,
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Lustwandelt fein im Sonnenschein,
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Der bürstet sich, wenn unserein
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Ihn anrührt mit dem Kleid.
 
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Wo hat der Bürger alles her:
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Den Geldsack und das Schießgewehr?
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Er stiehlt es grad wie wir.
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Bloß macht man uns das Stehlen schwer.
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Doch er kriegt mehr als sein Begehr.
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Er schröpft dazu die Taschen leer
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Von allem Arbeitstier.
 
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Oh, wär’ ich doch ein reicher Mann,
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Der ohne Mühe stehlen kann,
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Gepriesen und geehrt.
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Träf ich euch auf der Straße dann,
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Ihr Strohkumpane, Fritz, Johann,
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Ihr Lumpenvolk, ich spie’ euch an. –
35 
Das seid ihr Hunde wert!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Lumpenlied“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
35
Anzahl Wörter
190
Entstehungsjahr
1907
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Lumpenlied“ stammt von Erich Mühsam, einem deutsch-jüdischen Dichter, Schriftsteller und Anarchisten, der von 1878 bis 1934 lebte. Geprägt von den sozialen und politischen Ereignissen seiner Zeit, befasste sich seine Arbeit häufig mit sozialen Ungerechtigkeiten und Klassismus.

Auf den ersten Blick vermittelt das Gedicht einen Eindruck vom Leben der sozial Benachteiligten, der „Lumpen“, und ihre Beziehung zu den Bürgern der Gesellschaft, die in dieser Zeit oft als Synonym für die obere Mittelklasse verstanden wurde. Es scheint eine Art Sozialkritik zu sein, in der Mühsam Macht-, Ressourcen- und Klassendiskrepanzen hervorhebt.

Im Inhalt des Gedichtes beschreibt das lyrische Ich zunächst die Armut und das geringe Ansehen, das sie in der Gesellschaft genießen. Es spricht davon, dass die „Bürger“ auf sie spucken, und charakterisiert diese Bürger als wohlhabend, fromm und respektabel. Im weiteren Verlauf des Gedichtes argumentiert das lyrische Ich jedoch, dass diese Bürger ihre Reichtümer und Ressourcen genauso „stehlen“ wie die Lumpen, nur mit dem Unterschied, dass die Bürger dafür bewundert und geehrt werden. Am Ende des Gedichtes drückt das lyrische Ich den Wunsch aus, ebenfalls ein solcher wohlhabender „Dieb“ zu sein, und spricht Verachtung und Abneigung gegenüber seiner aktuellen Situation und Gemeinschaft aus.

Was die Form und die Sprache anbelangt, besteht das Gedicht aus fünf Strophen mit jeweils sieben Versen. Es ist in einfacher und direkter Sprache geschrieben, wodurch der soziale Kommentar des lyrischen Ichs leicht verständlich wird, und es enthält eine Vielzahl von Ironien und Kontrasten, was dazu beiträgt, seine Botschaft zu verstärken.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Erich Mühsams „Lumpenlied“ ein klares Beispiel für seine provokante und direkte Schreibweise ist. Durch seinen soziokritischen Ansatz gelingt es ihm, das Augenmerk auf Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu lenken und dazu anzuregen, diese kritisch zu hinterfragen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Lumpenlied“ des Autors Erich Mühsam. Mühsam wurde im Jahr 1878 in Berlin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1907 entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Expressionismus zu. Der Schriftsteller Mühsam ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 190 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 35 Versen. Weitere Werke des Dichters Erich Mühsam sind „An die Soldaten“, „Barbaren“ und „Bauchweh“. Zum Autor des Gedichtes „Lumpenlied“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 57 Gedichte vor.

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