1919 von Erich Mühsam
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Die das Volk bisher geleitet, |
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folgend dem gewohnten Lichte, |
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waren nicht drauf vorbereitet: |
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es begibt sich Weltgeschichte. |
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Wild schlägt der Empörung Welle |
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an des Staates morsche Fugen. |
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Krachend bersten die Gestelle, |
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die die alte Ordnung trugen. |
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Ja, ja, ihr Herrn, so geht's, |
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hört man die Demokraten. |
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Wir sagten es ja stets: |
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es kann nicht wohl geraten, |
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wenn man nach eignem Willen tut |
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und fragt nicht das Parteistatut. |
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Fürsten gleiten von den Thronen, |
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Völker lösen ihre Bande, |
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und es reiben sich Millionen |
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aus den Augen Schmerz und Schande. |
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Sie erwachen und begreifen |
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Gegenwart und Zukunft — beides, |
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und sie sehn Befreiung reifen |
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aus den Wurzeln ihres Leides. |
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Halt, liebe Leute, halt! |
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Vertraut bewährten Führern. |
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Sonst kommt ihr in Gewalt |
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von skrupellosen Schürern. |
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Folgt uns, so hilft euch gern der Staat, |
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wie er euch stets geholfen hat. |
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Finstre Mächte, die gewaltsam |
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Völker unter Fäuste preßten, |
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flüchten scheu, — und unaufhaltsam |
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strömt die Menge zu den Besten. |
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Und sie hört die neuen Lehren, |
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formt des Glückes Traumgebäude; |
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Leid scheint sich in Lust zu kehren |
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und die Arbeitslast in Freude. |
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Gewiß — nun ja — auch wir |
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sind Revolutionäre — |
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und schwingen das Panier. |
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Doch Umsturz ist Chimäre. |
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Besänftigt euern Seelenschwung |
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und stört nicht die Entwickelung. |
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Stimmen, die erst leise riefen, |
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tönen jubelnd wie Posaunen, |
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uud das Volk aus seinen Tiefen |
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reckt die Arme hoch voll Staunen. |
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Wie an unsichtbaren Drähten |
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zieht die Wahrheit in die Geister, |
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und das Volk in seinen Räten |
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fühlt sich seines Schicksals Meister. |
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Arbeiter-, Bauernrat? |
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Wir ziehn ihn schon, den Bankert. |
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Er sei im Bürgerstaat |
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genehmigt und verankert! |
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Jetzt zeigt sich's doch wohl jedem Kind, |
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was wir für Sozialisten sind. |
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Das Errungene zu wahren, |
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neue Freiheit zu gewinnen, |
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sammeln sich des Volkes Scharen |
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zu gewaltigem Beginnen. |
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Die ihr Werk sich selber bauen, |
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fürchten keine Widerstände, |
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denn es stützt sich ihr Vertrauen |
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auf die Kraft der eignen Hände. |
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Nein, mit Verlaub: dies jetzt |
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ist nicht mehr zu gestatten. |
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Mit solchem Vorgehn setzt |
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ihr uns ja in den Schatten. |
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Und wir sind da, euch zu erziehn |
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zu Ruhe, Ordnung, Disziplin. |
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Stein auf Stein nach kühnen Plänen |
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wird das stolze Haus errichtet, |
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plaudernd unter Freudentränen |
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künftiges Glück hineingedichtet. |
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Aber denen, die geschäftig |
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ränkevoll den Bau umlauern, |
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drohen ein paar Fäuste kräftig, |
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sie verscheuchend von den Mauern. |
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Wir üben nur Kritik. |
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Ihr werdet's noch erfahren: |
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Ihr Recht der Republik, |
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doch auch sein Recht dem Zaren. |
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Drum halten wir's zu jeder Zeit |
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gesetzlich mit der Obrigkeit. |
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Trotzig stehen auf den Stufen |
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vor dem Eingang die Genossen: |
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Rührt am Werk nicht, das wir schufen! |
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Euch ist dieses Tor verschlossen. |
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Unser Herzblut hält die Quadern, |
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die das Dach des Hauses stützen. |
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Wagt's! — Das Blut aus unsern Adern |
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soll der Kinder Wohnhaus schützen! |
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Oho! Da hilft man schon. |
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Habt ihr für euern Tempel |
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denn auch die Konzession |
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und den Regierungsstempel? — |
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Wir sind Regierung, — sind erwählt. |
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Man hat die Stimmen ausgezählt. |
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Eignen Willens Wort zu hören, |
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drängt das Volk zu den Erkornen: |
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Zu den Waffen! Sie zerstören |
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uns das Heim der Ungebornen! |
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Wer's versucht, den soll's gereuen! |
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Freier Zukunft frei die Bahnen! – |
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Und es eilen die Getreuen |
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kampffroh zu den roten Fahnen. |
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Zu Hilfe, Bürger, schnell! |
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Ein Aufruhr tobt, ein frecher. |
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Wer selber kein Rebell, |
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hilft gegen die Verbrecher. |
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Mit Dolch und Flinte kommt zuhauf |
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und fahrt auch die Haubitzen auf! |
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In dem Glauben an das Gute, |
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in dem Wissen um das Rechte |
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steht das Volk, mit seinem Blute |
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Trotz zu bieten im Gefechte. |
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Der Berater Stimmen schallen; |
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aus den Augen blitzen Strahle. |
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Aufrecht! — Siegen oder fallen! |
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Hoch die Internationale! |
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Seht die Banditenschar |
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mit ihren großen Mündern, |
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jedweder Ehre bar, |
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begierig nur zu plündern! |
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Schuft! Räuber! Mörder! Trunkenbold! |
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Ein jeder käuflich nur für Gold! |
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Auf von ihren Schmerzensbetten |
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zu den Brüdern treibt's die Bleichen, |
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hinkend aus den Lazaretten, |
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die geblutet für die Reichen. |
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Letzte Kraft will sich ermannen. |
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Frauen selbst stehn auf zum Kampfe, |
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daß die Machtgier der Tyrannen |
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nicht der Kinder Glück zerstampfe. |
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Herbei, ihr Leut zumal, |
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ihr Heiden, Juden, Christen! |
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Es geht fürs Kapital, — |
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und wir sind Sozialisten! |
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Pennäler! Bauer! Offizier! |
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Ran! Keiner zahlt so gut wie wir! |
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Rauch wölkt auf. Geschosse fliegen. |
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Gruppen gehen vor und weichen. |
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Vor dem Bau der Freiheit liegen |
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Kämpfer, — Leichen über Leichen. |
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Die sich nicht ergeben wollen, |
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drängen sterbend sich zusammen. |
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Donner der Geschütze rollen, — |
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und der Tempel steht in Flammen. |
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Heil, weiße Garde, heil! |
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Da liegt die ekle Horde. |
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Stoßt sie vors Hinterteil |
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für ihre feigen Morde! |
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Und zuckt noch wo ein solcher Wicht, — |
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packt ihn — und vor das Standgericht! |
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Jubel übertönt das Trauern. |
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Fahnen wehn und Salven krachen. |
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An der Kerkerhöfe Mauern |
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staut sich Blut in breiten Lachen. |
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Zwischen Zellenwänden siechen |
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die von Haß und Blei Verschonten ... |
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Doch aus ihren Winkeln kriechen |
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die schon längst vom Volk Entthronten. |
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Willkommen, hohe Herrn! |
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Soziale Demokraten |
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stehn wir zu Diensten gern |
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für Sie mit Wort und Taten. — |
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Doch machen Sie sich nicht so breit, |
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nachdem wir grade Sie befreit. |
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Stück für Stück bricht vom Gefüge, |
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das des Volkes Tat geschaffen. |
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Knebelung, Gewalt und Lüge |
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sind wie je des Staates Waffen. |
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Und dem armen Volke fehlen |
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die der Rede Gabe hatten. — |
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Doch der Toten bleiche Seelen |
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halten Rat im Reich der Schatten. |
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Weh! Teuflischer Verrat! |
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Die wir erlöst aus Banden, |
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die schlagen jetzt den Staat |
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und schlagen uns zu Schanden! |
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Hilf du uns, Volk, hilft uns nicht Gott, |
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vom Untergang und vom Bankrott. |
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Eines Tages in den Quellen |
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scheinbar ausgedorrter Bäche |
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brodeln neue Lebenswellen, |
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flutend an die Oberfläche. |
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Aller Völker Hände greifen |
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zueinander wie zum Beten, — |
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und der Morgensonne Streifen |
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übergolden den Planeten. |
Details zum Gedicht „1919“
Erich Mühsam
13
190
906
1920
Expressionismus
Gedicht-Analyse
„1919“ von Erich Mühsam ist ein Gedicht über die politischen Ereignisse im Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Das Gedicht zeigt die Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen, die um die Zukunft des Landes kämpfen, und die Spannungen zwischen den revolutionären Kräften und den konservativen Mächten, die versuchen, die alte Ordnung wiederherzustellen.
Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung der politischen Veränderungen und dem Ausbruch der Empörung im Volk, das die alten autoritären Strukturen ablehnt. Der Text zeigt, dass die alten politischen Führer und Parteien nicht darauf vorbereitet waren, dass "sich Weltgeschichte" begibt, und dass die Menschen „Wild schlägt der Empörung Welle / an des Staates morsche Fugen“ sind.
Im weiteren Verlauf des Gedichts wird der Konflikt zwischen den revolutionären Kräften und den konservativen Mächten deutlicher. Die revolutionären Kräfte fordern Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, während die Konservativen versuchen, die Macht zu behalten und die alte Ordnung wiederherzustellen. Die Zeilen „Stein auf Stein nach kühnen Plänen / wird das stolze Haus errichtet“ und „Wir üben nur Kritik. / Ihr werdet's noch erfahren: / Ihr Recht der Republik, / doch auch sein Recht dem Zaren“ zeigen den Konflikt zwischen den Kräften, die das Haus der Freiheit aufbauen wollen, und den Kräften, die es zerstören wollen.
Das Gedicht zeigt auch die Rolle der Massen und ihre Verantwortung im politischen Prozess. Es gibt Stimmen, die rufen, dass das Volk zu den Waffen greifen soll, um die Revolution zu verteidigen, und andere, die warnen, dass die Revolutionäre vorsichtig sein und sich nicht selbst zerstören sollten. Die Zeilen „Das Errungene zu wahren, / neue Freiheit zu gewinnen“ zeigen, dass es wichtig ist, die Errungenschaften zu schützen, aber auch neue Veränderungen anzustreben.
Insgesamt zeigt das Gedicht, dass die politischen Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit großer Veränderungen und Unsicherheiten waren, in der verschiedene Kräfte um die Zukunft des Landes kämpften. Das Gedicht ist eine Warnung an die Menschen, dass sie nicht nachlassen dürfen, um ihre Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie zu verteidigen.
Weitere Informationen
Erich Mühsam ist der Autor des Gedichtes „1919“. Geboren wurde Mühsam im Jahr 1878 in Berlin. Im Jahr 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 190 Versen mit insgesamt 13 Strophen und umfasst dabei 906 Worte. Die Gedichte „An die Dichter“, „An die Soldaten“ und „Barbaren“ sind weitere Werke des Autors Erich Mühsam. Zum Autor des Gedichtes „1919“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 57 Gedichte vor.
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- Das Beispiel lebt
- Das Volk der Denker
- Das Neue Deutschland
- Der Anarchisterich
Zum Autor Erich Mühsam sind auf abi-pur.de 57 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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