Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein von Joachim Ringelnatz

Daddeldu malte im Hafen mit Teer
Und Mennig den Gaffelschoner Claire.
Ein feiner Herr kam daher,
Blieb vor Daddeldun stehn
Und sagte: „Hier sind fünfzig Pfennig,
Lieber Mann, darf man wohl mal das Schiff besehn?“
Daddeldu stippte den Quast in den Mennig,
Daß es spritzte, und sagte: „Fünfzig ist wenig.
Aber, God demm, jedermann ist kein König.“
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Und der Fremde sagte verbindlich lächelnd: „Nein,
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Ich bin nur Fürst Wittgenstein.“
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Daddeldu erwiderte: „Fürst oder Lord –
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Scheiß Paris! Komm nur an Bord.“
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Wittgenstein stieg, den Teerpott in seiner zitternden Hand,
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Hinter Kutteln das Fallreep empor und kriegte viel Sand
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In die Augen, denn ein schwerer Stiefel von Kut-
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Tel Daddeldu stieß ihm die Brillengläser kaput,
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Und führte ihn oben von achtern nach vorn
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Und von Luv nach Lee.
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Und aus dem Mastkorb fiel dann das Brillengestell aus Horn,
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Und im Kettenkasten zerschlitzte der Cutaway.
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Langsam wurde der Fürst heimlich ganz still.
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Daddeldu erklärte das Ankerspill.
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Plötzlich wurde Fürst Wittgenstein unbemerkt blaß.
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Irgendwas war ihm zerquetscht und irgendwas naß.
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Darum sagte er mit verbindlichem Gruß:
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„Vielen Dank, aber ich muß – – –“
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Daddeldu spukte ihm auf die zerquetschte Hand
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Und sagte: „Weet a Moment, ich bringe dich noch an Land.“
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Als der Fürst unterwegs am Ponte San Stefano schmollte,
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Weil Kuttel durchaus noch in eine Osteria einkehren wollte,
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Sagte dieser: „Oder schämst du dich etwa vielleicht?“
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Da wurde Fürst Wittgenstein wieder erweicht.
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Als sie dann zwischen ehrlichen Sailorn und Dampferhallunken
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Vier Flaschen Portwein aus einem gemeinsamen Becher getrunken,
 
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Rief Kuttel Daddeldu plötzlich mit furchtbarer Kraft:
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„Komm, alter Fürst, jetzt trinken wir Brüderschaft.“
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Und als der Fürst nur stumm auf sein Chemisette sah,
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Fragte Kuttel: „Oder schämst du dich etwa?“
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Wittgenstein winkte ab und der Kellnerin.
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Die schob ihm die Rechnung hin.
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Und während der Fürst die Zahlen mit Bleistiftstrichen
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Anhakte, hatte Kuttel die Rechnung beglichen.
 
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Der Chauffeur am Steuer knirschte erbittert.
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Daddeldu hatte schon vieles im Wagen zersplittert,
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Während er dumme Kommandos in die Straßen und Gassen
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Brüllte. „Hart Backbord!“ „Alle Mann an die Brassen!“
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Rasch aussteigend fragte Fürst Wittgenstein:
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„Bitte, wo darf ich Sie hinfahren lassen?“
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Aber Daddeldu sagte nur: „Nein!“ Darauf erwiderte jener bedeutend nervös:
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„Lieber Herr Seemann, seien Sie mir nicht bös;
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Ich würde Sie bitten, zu mir heraufzukommen,
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Aber leider – –“ Daddeldu sagte: „Angenommen.“
 
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Auf der Treppe bat dann Fürst Wittgenstein
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Den Seemann inständig:
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Um Gottes willen doch ja recht leise zu sein;
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Und während er später eigenhändig
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Kaffee braute – und goß in eine der Tassen viel Wasser hinein, –
 
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Prüfte Kuttel nebenan ganz allein,
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Verblüfft, mit seinen hornigen Händen
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Das Material von ganz fremden Gegenständen.
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Bis ihm zu seinem Schrecken der fünfte
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Zerbrach. – Da rollte er sich in den großen Teppich hinein.
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Dann kam mit hastigen Schritten
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Der Kaffee. Und Fürst Wittgenstein
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Sagte, indem er die Stirne rümpfte:
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„Nein, aber nun muß ich doch wirklich bitten – –
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Das widerspricht selbst der simpelsten populären Politesse.“
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Daddeldu lallte noch: „Halt’ die Fresse!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.5 KB)

Details zum Gedicht „Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
69
Anzahl Wörter
477
Entstehungsjahr
1924
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein“ wurde von Joachim Ringelnatz verfasst, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettist, der vor allem durch seine humorvollen und teilweise grotesken Gedichte bekannt wurde. Ringelnatz lebte von 1883 bis 1934, seine Schaffensphase fällt somit in die Zeit des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit.

Bereits beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht eine Begegnung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Individuen beschreibt: Kuttel Daddeldu, einen groben und vermutlich betrunkenen Seemann, und Fürst Wittgenstein, einen distinguierten Adeligen. Die triviale Szene wird durch die komischen und skurrilen Elemente zu einer humorvollen Darstellung der sozialen Unterschiede.

In einfachen Worten handelt das Gedicht von Fürst Wittgenstein, der den Seemann Kuttel Daddeldu anspricht und ihm fünfzig Pfennig anbietet, um sein Schiff besichtigen zu dürfen. Daddeldu lässt ihn an Bord, aber der Besuch endet mit Komplikationen, da Fürst Wittgenstein nicht an das harte Seemannsleben gewöhnt ist. Lustige Missverständnisse und peinliche Situationen entstehen, als Daddeldu den Fürsten in eine Kneipe mitnimmt und später sogar zu ihm nach Hause fährt. Das Gedicht endet mit der totalen Verwüstung von Fürst Wittgensteins Wohnung und dem entnervten Ausbruch Daddeldus, dem alles egal zu sein scheint.

Die Hauptthese des Gedichts scheint zu sein, dass trotz unserer sozialen Unterschiede, wir alle Menschen sind und miteinander auskommen müssen. Im Kontext der Zeit könnte es auch als Kritik an den starren sozialen Strukturen und den Klassenunterschieden interpretiert werden.

Formal gesehen besteht das Gedicht aus erzählenden Reimen in freien Versen ohne festes Metrum oder Reimschema. Die Sprache ist einfach und direkt, mit Seemannsjargon und umgangssprachlichen Ausdrücken, was zur humorvollen Atmosphäre des Gedichts beiträgt. Die Figuren werden durch ihre Sprache und ihr Verhalten charakterisiert, was eine klare Unterscheidung zwischen den beiden ermöglicht.

Zusammenfassend ist „Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein“ ein humorvolles Gedicht, das soziale Unterschiede und menschliche Interaktionen auf eine unterhaltsame und dennoch kritische Weise betrachtet.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein“ ist Joachim Ringelnatz. Ringelnatz wurde im Jahr 1883 in Wurzen geboren. Im Jahr 1924 ist das Gedicht entstanden. In München ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 69 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 477 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz sind „...als eine Reihe von guten Tagen“, „7. August 1929“ und „Abendgebet einer erkälteten Negerin“. Zum Autor des Gedichtes „Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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