Kuttel Daddeldu im Binnenland von Joachim Ringelnatz
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Schlafbrüchige Bürger von Eisenach |
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Tapsten ans Fenster. Denn draußen gab’s Krach. |
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Da sang jemand, der eine Hängematte |
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Und ein Geigenfutteral auf dem Rücken hatte. |
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Und ließ auch Töne frei, die man besser |
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Sich aufspart für Sturmfahrten im Auslandsgewässer. |
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Zehn Jahre zuvor und von Eisenach sehr entfernt |
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Hatte Daddeldu bei Schwedenpunsch, Whisky, Rotwein und Kuchen |
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In Grönland eine Gräfin Pantowsky kennengelernt, |
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Die hatte gesagt: „Sie müssen mich mal besuchen.“ |
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Und zehn Jahre lang merkte sich Kuttel genau: |
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Eisenach, Burgstraße 16, dicke, richtig anständige Frau. |
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Auch studierte bei Eisenach oder Wiesbaden herum |
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Sein Schwager zolologisches Studium; |
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Für den schleppte Kuttel in dem Futteral |
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Seit Bombay ein seltnes Geschenk herum. |
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Nun, nach dem Untergange der Lotte Bahl, |
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Wollte er Schwager und Gräfin sozusagen |
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Mit zwei Fliegen auf einer Klappe schlagen. |
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Rief also jetzt die nächtlichen thüringer Leutchen |
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Mit englischen Fragen an. Später mit deutschen. |
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Aber die Gräfin Pantowsky kannte keiner. |
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Und auf einmal las Kuttel an Luvseite „Zum Rodensteiner“ |
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Und kalkulierend, daß dort was zu trinken sei, |
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Klopfte er. Teils vergeblich und teils entzwei. |
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Weil weder Wirts- noch Freudenhaus noch Retirade |
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Sich öffneten, sagte Daddeldu: „Schade“. |
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Fand aber weitersteigend und unverdrossen |
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Das Haus Burgstraße 16. Leider verschlossen. |
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Die Tür zum Gräflich Pantowskychsen Zwetschengarten |
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Zersplitterte. Daddeldu hatte beschlossen zu warten. |
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Mittags im Pensionat Kurtius |
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Bewarfen die Mädchen nach Unterrichtsschluß |
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Mit Stöpsels und leeren Konservendosen |
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Einen furchtbaren Kerl, der mit buchtigen Hosen |
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Und einem imposanten Revers |
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Zwischen Ästen in Höhe des Hochparterres |
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In einer Hängematte schlief |
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Und nicht reagierte auf das, was man rief. |
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Als er doch endlich halbwegs erwachte, |
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Weil von zwei Bäumen einer zur Erde krachte, |
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Spritzten die Mädchen dem Manne Eau de Kolon ins Gesicht. |
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Aber die Gräfin Pantowsky kannten sie nicht. |
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Und verwirrt über die Falschheit des Binnenlands |
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Nannte Kuttel die Vorsteherin „Alte Spinatgans!“ |
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Und taumelte schlaftrunken, römische Flüche stammelnd, zu Tal, |
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Mit Hängematte, doch ohne das Dingsfutteral. |
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Alsbald, von wegen das Taumeln und Stammeln, |
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Begannen sich Kinder um ihn zu sammeln. |
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Und der Kinder liebende Daddeldu, |
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Nur um die Kinder zu amüsieren, |
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Fing an, noch stärker nach rechts und nach links auszugieren, |
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Als ob er betrunken wäre. Und brüllte dazu: |
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„The whole life is vive la merde!“ |
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Und wurde so polizeilich eingesperrt. |
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An Gräfin Pantowsky glaubte dort keiner. |
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Und der unglücklich nüchterne Daddeldu |
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Gab den zerbrochenen Rodensteiner, |
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Gab alles andre Gefragte eilig zu |
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Und drehte – ohne Tabak – in der Nacht |
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Wie ein Log zwölf Knoten ins hölzerne Lager, |
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Oder vielmehr in die Hängematte. |
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Weil er das schöne Geschenk für den Schwager |
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In der Mädchenpension vergessen hatte. |
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Gewiß war das Futteral schon erbrochen, |
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Und das Geschenk war herausgekrochen |
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Und hatte vielleicht schon wer-weiß-wen gestochen. |
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Später im D-Zug, unter der Bank hinter lauter ängstlichen Beinen, |
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Fing Daddeldu plötzlich an, zum einzigsten Male zu weinen |
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(Denn später weinte er niemals mehr.) – – |
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Beide Flaschen Eau de Kolon waren leer. |
Details zum Gedicht „Kuttel Daddeldu im Binnenland“
Joachim Ringelnatz
7
71
464
1924
Moderne,
Expressionismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Kuttel Daddeldu im Binnenland“ ist eine Schöpfung des deutschen Schriftstellers und Malers Joachim Ringelnatz, geboren am 7. August 1883 und gestorben am 17. November 1934. Da sich dezidierte Erscheinungsdaten seiner Werke oft schwer bestimmen lassen, ordnen wir das Gedicht und seine Figur Kuttel Daddeldu zeitlich allgemein der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu.
Die Geschichte erzählt humorvoll-melancholisch die Erlebnisse und Missgeschicke von Kuttel Daddeldu, einer von Ringelnatz erschaffenen, schelmischen Seemannsfigur mit Hang zur Trunksucht. Dieser erinnert sich an Gräfin Pantowsky, die er vor zehn Jahren in Grönland kennengelernt und versprochen hatte, sie zu besuchen (Eisenach, Burgstraße 16).
Es beginnt mit der Ankunft des überschwänglichen Kuttel Daddeldu in Eisenach. Er verursacht einen Aufruhr, durch sein Gesang und die lauten Töne, die er von sich gibt. Er sucht die Adresse der Gräfin Pantowsky und gerät dabei in allerlei Schwierigkeiten. Trotz seiner vergeblichen Versuche, die Gräfin zu finden, bleibt Kuttel gut gelaunt und findet Zuflucht in einer Hängematte. Bei Erwachen verliert er das Geschenk für seinen Schwager, ein seltenes Tier in einem Geigenfutteral, das er von Bombay mitgebracht hatte, und wird wegen seines auffälligen Verhaltens von der Polizei festgenommen. Am Ende weint er in einem Zug, weil beide Flaschen Eau de Kolon leer sind.
Im Gedicht mischt Ringelnatz seinen typischen skurrilen Humor mit einer gewissen Melancholie. Trotz aller komischen Situationen, in die Kuttel Daddeldu gerät, liegt eine Tragik in seinem Scheitern, seinen Plan umzusetzen. Des Weiteren kreiert Ringelnatz eine Kontrastwelt zwischen der gewohnten rauen See und dem unbekannten, „falschen“ Binnenland, was der lyrischen Figur eine zusätzliche Dimension verleiht.
Das Gedicht ist in Versform geschrieben, meist mit einem klaren Endreim, und weist eher eine freie Rhythmik auf. Es ist strukturell in sieben Strophen eingeteilt, wobei jede Strophe eine bestimmte Szene oder Situation darstellt und sich in ihrer Länge unterscheidet. Der Sprachgebrauch ist simpel und umgangssprachlich, was dem Charakter von Kuttel Daddeldu entspricht.
Zusammenfassend ist „Kuttel Daddeldu im Binnenland“ ein humorvolles, aber auch melancholisches Gedicht, das die Erlebnisse einer skurrilen, sympathischen Figur erzählt, die dem Alltag mit Leichtsinn und Humor begegnet, dabei aber auch ihre tragikomischen Seiten offenbart.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Kuttel Daddeldu im Binnenland“ des Autors Joachim Ringelnatz. Der Autor Joachim Ringelnatz wurde 1883 in Wurzen geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1924 entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne oder Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 464 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 71 Versen. Der Dichter Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „Abgesehen von der Profitlüge“, „Abglanz“ und „Abschied von Renée“. Zum Autor des Gedichtes „Kuttel Daddeldu im Binnenland“ haben wir auf abi-pur.de weitere 560 Gedichte veröffentlicht.
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