Jeremia von Rainer Maria Rilke

Einmal war ich weich wie früher Weizen,
doch, du Rasender, du hast vermocht,
mir das hingehaltne Herz zu reizen,
daß es jetzt wie eines Löwen kocht.
 
Welchen Mund hast du mir zugemutet,
damals, da ich fast ein Knabe war:
eine Wunde wurde er: nun blutet
aus ihm Unglücksjahr um Unglücksjahr.
 
Täglich tönte ich von neuen Nöten,
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die du, Unersättlicher, ersannst,
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und sie konnten mir den Mund nicht töten;
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sieh du zu, wie du ihn stillen kannst,
 
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wenn, die wir zerstoßen und zerstören,
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erst verloren sind und fernverlaufen
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und vergangen sind in der Gefahr:
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denn dann will ich in den Trümmerhaufen
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endlich meine Stimme wiederhören,
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die von Anfang an ein Heulen war.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.2 KB)

Details zum Gedicht „Jeremia“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
18
Anzahl Wörter
111
Entstehungsjahr
1918
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Jeremia“ stammt vom bedeutenden Lyriker Rainer Maria Rilke, der von 1875 bis 1926 lebte. Somit kann das Gedicht der literarischen Epoche der Moderne zugeordnet werden, da Rilke gerade in dieser Zeit seine zentralen und richtungsweisenden Werke schrieb und beeinflusste.

Im ersten Eindruck spricht das Gedicht von einer harten Veränderung. Es wird deutlich, dass das lyrische Ich einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht hat, der geprägt ist von Schmerz und Trauma.

Die erste Strophe zeigt den Wandel des lyrischen Ichs von einer sanften Person zu jemandem, der von Wut und Zorn getrieben ist. In der zweiten Strophe offenbart das lyrische Ich, dass diese Veränderung in seiner Jugend begann und zu einer dauerhaften Quelle des Unglücks wurde. Die dritte Strophe betont die Schwere des Erlebten, indem das lyrische Ich betont, dass es trotz alledem seine Stimme nicht verloren hat und der vermeintliche Widersacher nun herausfinden muss, wie er ihn zum Schweigen bringen kann. Im letzten Abschnitt wird klar, dass das lyrische Ich erst in Ruhe zur Besinnung kommen wird, wenn alles zerstört und verloren ist, und es den ursprünglichen Schmerz zulässt.

Das Gedicht hält sich nicht an einen strengen Versmaß- oder Reimschema, was typisch für die Moderne und speziell Rilke ist. Die Unregelmäßigkeit der Form verdeutlicht das Thema der Zerstörung und Verwüstung. Die Kraft der Verzweiflung und Ungeduld wird durch die wütenden und Verlust beteiligten Sprachbilder verkörpert, die das Gedicht durchziehen.

Der Titel „Jeremia“ könnte auf den gleichnamigen Propheten in der Bibel hinweisen, was eine spirituelle oder religiöse Ebene in das Gedicht einbringt - eine weitere typische Eigenschaft von Rilkes Werk. Jeremia wird oft als „weinender Prophet“ bezeichnet, da er das drohende Unheil voraussah und es verkündete, trotz des Spottes und der Verfolgung, die er dafür ertragen musste. Diese Parallele könnte darauf hinweisen, dass auch das lyrische Ich eine Art „Prophet“ in seinem eigenen Leben ist, der trotz Verlust und Zerstörung weiterhin seine Wahrheit spricht.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Jeremia“ des Autors Rainer Maria Rilke. Der Autor Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1918 entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 18 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 111 Worte. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Abend in Skaane“, „Absaloms Abfall“ und „Adam“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Jeremia“ weitere 338 Gedichte vor.

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