Des Narcissus Verwandlung von Carl Streckfuß

Narciß, der schönste Hirt der Flur,
Von reicher Anmuth Glanz umstrahlet,
Sucht überall der Schönheit Spur,
Die sich in seinem Innern mahlet.
 
Was formlos ihm im Herzen wallt,
Will zum Gedanken er erwecken,
Bestrebt, im Spiegel der Gestalt
Das Nahmenlose zu entdecken.
 
So irrt er über Berg und Thal,
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Geäfft von irrer Hoffnung Schimmer,
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Ermattet von der Sehnsucht Quaal,
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Und findet das Gesuchte nimmer.
 
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Einst sieht er unter jungen Main
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Im Rasen eine Quelle spielen,
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Sanft lispelnd ladet sie ihn ein,
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Sein glühend Herz an ihr zu kühlen.
 
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Narcissus folgt dem Ruf, und giebt
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Dem Blumenbord die holden Glieder,
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Da strahlet hell und ungetrübt
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Ihm seiner Formen Zauber wieder.
 
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Er sieht’s und staunt — die Schönheit lacht
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Aus stillen Wellen ihm entgegen,
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Er fühlet ihre Göttermacht
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Sein wonnetrunknes Herz bewegen.
 
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Und er vergißt sich selbst, er sieht
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Nur sie, die der Olymp geboren,
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Der er, von Ahndungen entglüht,
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Auf ewig Huldigung geschworen.
 
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Doch Zevs erblickt von seinem Thron
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Des reinen Jünglings heilig Beben,
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Ihm will er nun den schönsten Lohn
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Für die geweihten Flammen geben.
 
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Denn wer sein Herz dem Schönen weiht,
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Der weiht es ewig auch dem Guten,
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Und läutert sich zur Göttlichkeit
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Durch beyder nie getrennte Gluthen.
 
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Und Zevs gebeut: Kann so dein Herz
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Der Schönheit heil’ger Strahl entzünden,
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So sollst du des Vergehens Schmerz
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Der schönen Formen nie empfinden.
 
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Drum sey der Erd’ im Flug entwandt,
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Der alles Schöne schnell entfliehet,
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Zu wohnen in dem seel’gen Land,
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Wo ewig jung die Schönheit blühet.
 
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Doch eine Blume blühe da,
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Wo einst, zur Quelle hingesunken,
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Dein Blick das Tiefempfundne sah,
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In wundersüßem Schauen trunken.
 
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In voller Blüthe soll die Macht
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Des Sturmes ihren Stängel knicken,
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Sie soll, wenn neu der Lenz erwacht,
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Auch neuerblüht der Quelle nicken.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.6 KB)

Details zum Gedicht „Des Narcissus Verwandlung“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
290
Entstehungsjahr
1804
Epoche
Klassik,
Romantik

Gedicht-Analyse

Das mehrstrophige Gedicht „Des Narcissus Verwandlung“ wurde von dem deutschen Dichter Carl Streckfuß verfasst, der zwischen 1778 und 1844 lebte. Daher lässt sich das Werk stilistisch in die Epoche der Romantik einordnen.

Beim ersten Lesen fallen die zahlreichen naturbezogenen Elemente auf, welche typisch für die Romantik sind. Das Gedicht erzählt die Geschichte des Narziss, der für seine ausnehmende Schönheit bekannt ist. Er ist auf der Suche nach der Schönheit, die er in sich spürt, jedoch nicht benennen oder konkreter fassen kann.

Inhaltsmäßig folgt das lyrische Ich der mythologischen Geschichte des Narziss. Dieser irrt durch die Landschaft und ist auf der verzweifelten Suche nach der Schönheit. An einer Quelle angekommen sieht Narziss zum ersten Mal sein eigenes Spiegelbild und verliebt sich unsterblich in sich selbst. Er verliert sich so sehr in seiner eigenen Wahrnehmung, dass er sich selbst vergisst.

Die komplexe Bedeutung erschließt sich erst im Kontext des gesamten Gedichts: Narziss, der sich in seiner eigenen Schönheit verliert, wird von Zeus bemerkt. Zeus interpretiert Narziss' Selbstvergessenheit als Huldigung an die Schönheit und belohnt ihn mit ewiger Jugend. Narziss wird von der Erde entbunden und darf in einem Land leben, in dem die Schönheit ewig jung bleibt. Dort soll eine Blume blühen, die an die Stelle erinnert, an der Narziss sein Spiegelbild sah und sich in sich selbst verliebte.

Die Sprache ist anspruchsvoll und stilistisch aufwändig, da Streckfuß eine alte Rechtschreibung und Formulierungen benutzt, die für das heutige Verständnis eher unüblich sind. Trotzdem bleibt die Sprache stets flüssig und harmonisch, da Streckfuß durchgehend ein regelmäßiges Versmaß einhält. Zudem ist das Gedicht reich an bildhaften Beschreibungen und Metaphern, die die mythologische Handlung kontrastieren und verstärken.

Der Inhalt und die Form des Gedichts weisen auf die romantische Sehnsucht nach Schönheit und Vollkommenheit hin. Dieses Anliegen manifestiert sich in der Figur des Narziss, die für die Künstler der Epoche ein häufig gewähltes Symbol für die Bestrebung des Menschen nach Schönheit und Selbsterkenntnis war.

Weitere Informationen

Carl Streckfuß ist der Autor des Gedichtes „Des Narcissus Verwandlung“. Im Jahr 1778 wurde Streckfuß in Gera geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1804 zurück. Erschienen ist der Text in Wien. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Klassik oder Romantik zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 290 Wörter. Es baut sich aus 13 Strophen auf und besteht aus 52 Versen. Weitere Werke des Dichters Carl Streckfuß sind „An Maria del Caro“, „An Nadine“ und „An die Kronprinzessin von Preußen“. Zum Autor des Gedichtes „Des Narcissus Verwandlung“ haben wir auf abi-pur.de weitere 50 Gedichte veröffentlicht.

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