Der letzte Tag des vergangnen Jahrs von Joachim Ringelnatz

Ich ging auf Abenteuer
Durch finsteres Gassengewirr.
Ein Fenster in schiefem Gemäuer.
Inseits ein leises Geklirr
Und ein kleines, bläuliches Feuer. –
Durchaus ganz geheuer:
Feuerzangen
Bowle. Bin weitergegangen.
 
Das Eckhaus ist ein Bordell,
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Die ganze Stadt weiß es.
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Ich ging ganz langsam, nicht schnell,
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Wegen des Glatteises
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Hin und hinein.
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Da saß unterm Christbaum allein
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Ein magerer Zuhälter.
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Er konnte siebzig, auch älter,
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Er konnte auch Lebegreis sein.
 
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Wir wechselten falsche Namen,
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Und weil gar keine Damen
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Da waren, sangen wir traurig ein Lied,
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Seltsam war die Stimme des Greises.
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Ich schied,
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Schlich langsam wegen des Glatteises.
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Das glättste von allen Wintern,
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Die je ich erlebt.
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Kein Sand gestreut.
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Man geht – sitzt auf dem Hintern,
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Hat nichts gebrochen – erhebt
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Sich wieder – und sitzt erneut.
 
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Quer übern Weg plötzlich lief
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Eine Katze. Also: ich trat
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Schnell drei Schritt zurück. Da rief
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Hinter mir „Au!“ ein Marinesoldat.
 
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Wir gestanden als Wasserratten,
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Was wir zuvor schon getrunken hatten.
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Wir haben uns an-ahoit.
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Kein Sand war gestreut.
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Wir lagen. – Was soll ich lange noch sagen –
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Liefen, lagen, liefen –.
 
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Und riefen
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Die Damen herunter, wollten was tun,
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Wildes, wie Stierkampf oder Taifun.
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Doch wir entschliefen
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Ohne Weiber unter dem Baum.
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Der Lebezuhälter
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Pfiff rückwärts im Traum.
 
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Der nächste Tag war viel kälter.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.2 KB)

Details zum Gedicht „Der letzte Tag des vergangnen Jahrs“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
47
Anzahl Wörter
207
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht mit dem Titel „Der letzte Tag des vergangnen Jahrs“ wurde von Joachim Ringelnatz verfasst, einem bedeutenden deutschen Schriftsteller und Kabarettist des frühen 20. Jahrhunderts, der von 1883 bis 1934 lebte. Ringelnatz ist bekannt für seine spielerische, humoristische und oft absurde Lyrik. Dieses Gedicht kann somit zeitlich in die Weimarer Republik eingeordnet werden.

Das Gedicht wirkt beim ersten Lesen bereits sehr ausschweifend und entzieht sich einer klaren, einheitlichen Deutung. Das lyrische Ich entführt uns in eine Szenerie, die den letzten Tag des vergangenen Jahres porträtiert. Das lyrische Ich schlendert dabei durch die Stadt, macht skurrile Begegnungen und beschreibt diese auf teils humorvolle, teils melancholische Weise. Insgesamt ist das Gedicht durchtränkt von einer starken Winteratmosphäre, die einerseits mit Gefahren wie Glatteis und Kälte assoziiert wird, andererseits aber auch Raum für Erlebnisse und Begegnungen bietet.

Im Detail erzählt das lyrische Ich von verschiedensten kleinen „Abenteuern“, die es im Gassenlabyrinth der Stadt erlebt. Dabei wird eine Reihe von kuriosen Situationen und Begegnungen beschrieben, von einem schiefen Fenster und einem geheimnisvollen bläulichen Feuer bis hin zu einem Bordellbesuch, einem falschen Namen tauschenden alten Zuhälter und einer brisanten Begegnung mit einem Marinesoldaten.

Das Gedicht beschreibt in einer Mischung aus Alltäglichem, Kuriosem und auch Surrealem die Vielschichtigkeit des menschlichen Daseins. Die Nacht scheint durch die für Ringelnatz typische Mischung aus Humor, Melancholie und Absurdität zu einer Art surrealen Traumlandschaft zu werden, die den Protagonisten immer wieder mit unerwarteten, teils absurd-komischen, teils bedrohlichen Situationen konfrontiert.

Formal ist das Gedicht in sieben Strophen unterteilt, die von unterschiedlicher Länge sind und zwischen einem und zwölf Versen variieren. Das Fehlen eines klaren Reimschemas unterstreicht das Freiheitsgefühl und die Improvisationslust der beschriebenen Nacht. Die Sprache ist eher einfach gehalten, wird aber durch den gelegentlichen Gebrauch von Seemannssprache (wie „ahoit“) und speziellen Wortneuschöpfungen (wie „Lebezuhälter“) aufgelockert und individualisiert.

Zusammenfassend ist das Gedicht „Der letzte Tag des vergangnen Jahrs“ ein typisches Werk von Joachim Ringelnatz. Es präsentiert alltägliche Begegnungen und Situationen in einer humorvollen, oft absurden Perspektive und fordert den Leser auf, das Gewöhnliche aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der letzte Tag des vergangnen Jahrs“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Das Gedicht ist im Jahr 1929 entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 207 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 47 Versen. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „Afrikanisches Duell“, „Alone“ und „Alte Winkelmauer“. Zum Autor des Gedichtes „Der letzte Tag des vergangnen Jahrs“ haben wir auf abi-pur.de weitere 560 Gedichte veröffentlicht.

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