Der Sohn von Rainer Maria Rilke
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Mein Vater war ein verbannter |
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König von überm Meer. |
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Ihm kam einmal ein Gesandter: |
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sein Mantel war ein Panther |
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und sein Schwert war schwer. |
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Mein Vater war wie immer |
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ohne Helm und Hermelin; |
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es dunkelte das Zimmer |
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wie immer arm um ihn. |
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Es zitterten seine Hände |
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und waren blaß und leer, – |
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in bilderlose Wände |
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blicklos schaute er. |
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Die Mutter ging im Garten |
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und wandelte weiß im Grün, |
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und wollte den Wind erwarten |
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vor dem Abendglühn. |
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Ich träumte, sie würde mich rufen, |
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aber sie ging allein, – |
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ließ mich vom Rande der Stufen |
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horchen verhallenden Hufen |
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und ins Haus hinein: |
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Vater! Der fremde Gesandte …? |
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Der reitet wieder im Wind … |
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Was wollte der? Er erkannte |
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Dein blondes Haar, mein Kind. |
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Vater! Wie war er gekleidet! |
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Wie der Mantel von ihm floß! |
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Geschmiedet und geschmeidet |
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war Schulter, Brust und Roß. |
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Er war eine Stimme im Stahle, |
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er war ein Mann aus Nacht, – |
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aber er hat eine schmale |
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Krone mitgebracht. |
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Sie klang bei jedem Schritte |
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an sein sehr schweres Schwert, |
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die Perle in ihrer Mitte |
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ist viele Leben wert. |
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Vom zornigen Ergreifen |
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verbogen ist der Reifen, |
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der oft gefallen war: |
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es ist eine Kinderkrone, – |
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denn Könige sind ohne; |
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– gib sie meinem Haar! |
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Ich will sie manchmal tragen |
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in Nächten, blaß vor Scham. |
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Und will Dir, Vater, sagen, |
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woher der Gesandte kam. |
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Was dort die Dinge gelten, |
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ob steinern steht die Stadt, |
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oder ob man in Zelten |
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mich erwartet hat. |
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Mein Vater war ein Gekränkter |
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und kannte nur wenig Ruh. |
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Er hörte mir mit verhängter |
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Stirne nächtelang zu. |
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Mir lag im Haar der Ring. |
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Und ich sprach ganz nahe und sachte, |
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daß die Mutter nicht erwachte, – |
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die an dasselbe dachte, |
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wenn sie, ganz weiß gelassen, |
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vor abendlichen Massen |
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durch dunkle Gärten ging. |
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*** |
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… So wurden wir verträumte Geiger, |
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die leise aus den Thüren treten, |
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um auszuschauen, eh sie beten, |
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ob nicht ein Nachbar sie belauscht. |
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Die erst, wenn alle sich zerstreuten, |
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hinter dem letzten Abendläuten, |
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die Lieder spielen, hinter denen, |
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(wie Wald im Wind hinter Fontänen) |
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der dunkle Geigenkasten rauscht. |
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Denn dann nur sind die Stimmen gut, |
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wenn Schweigsamkeiten sie begleiten, |
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wenn hinter dem Gespräch der Saiten |
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Geräusche bleiben wie von Blut; |
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und bang und sinnlos sind die Zeiten, |
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wenn hinter ihren Eitelkeiten |
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nicht etwas waltet, welches ruht. |
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Geduld: es kreist der leise Zeiger, |
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und was verheißen ward, wird sein: |
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Wir sind die Flüstrer vor dem Schweiger, |
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wir sind die Wiesen vor dem Hain; |
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in ihnen geht noch dunkles Summen – |
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(viel Stimmen sind und doch kein Chor) |
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und sie bereiten auf die stummen |
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tiefen heiligen Haine vor … |
Details zum Gedicht „Der Sohn“
Rainer Maria Rilke
7
88
420
1906
Moderne
Gedicht-Analyse
Dieses Gedicht entstammt der Feder von Rainer Maria Rilke, einem der bedeutendsten Lyriker der deutschen Literatur, welcher in der späten Phase des Symbolismus und der Dichtung des frühen 20. Jahrhunderts tätig war. Sein lyrischer Stil, der sich durch eine hohe sprachliche Präzision und Intensität, sowie emotionale Tiefe auszeichnet, lässt sich auch in diesem Gedicht erkennen.
Auf den ersten Blick wird die melancholische und träumerische Atmosphäre des Gedichts wahrnehmbar. Detaillierte Beschreibungen und Metaphern wirken fast surreal und laden zu einer intensiven Interpretation ein.
Das lyrische Ich erzählt eine Geschichte über seine Familie, insbesondere seinen Vater, der als verbannter König dargestellt wird. Die Mutter wandelt einsam im Garten und das lyrische Ich, der Sohn, versucht, die missverstandene Botschaft des fremden Gesandten zu entschlüsseln und dem Vater näherzukommen. Die Geschichte scheint jedoch ungesagt zu bleiben, das Schweigen und die melancholische Stimmung hängen wie ein dunkler Schatten über der Familie.
Das Gedicht ist in einer sehr reichen und bildhaften Sprache verfasst. Rilke verwendet viele Metaphern und symbolträchtige Begriffe, wie „verbannter König“, „Mantel war ein Panther“, „Krone“, um die Gefühle und die Situation der Hauptfiguren zu beschreiben. Dabei spielen Themen wie Abgeschiedenheit, Einsamkeit und Sehnsucht eine große Rolle.
Das lyrische Ich ersehnt eine innige Beziehung zu seinem Vater, versucht, dessen Vergangenheit und Gefühlswelt zu verstehen, doch es stößt immer wieder auf eine Mauer des Schweigens und der Entfremdung. Die wiederholten Vergleiche und Metaphern für Königtum und Verbannung beschreiben nicht nur die emotionale Distanz zwischen Vater und Sohn, sondern verweisen auch auf die gesellschaftlichen Umstände und Erwartungen, die ihr Verhältnis belasten.
Formal ist das Gedicht nicht streng gebunden, es besteht aus sieben unregelmäßigen Strophen. Die Länge der Strophen und die Versmaße variieren, was den fließenden, fast prosaischen Charakter des Gedichts betont. Es gibt keinen Reim, was die Melancholie und die Schwermut der Geschichte unterstreicht.
Insgesamt handelt es sich bei Rilkes „Der Sohn“ um ein intensives und emotionales Gedicht, das ein tiefes Gefühl der Entfremdung und der Sehnsucht einfängt. Es ist eine melancholische Reflexion über die Beziehung zwischen Vater und Sohn, die durch Missverständnisse und unausgesprochene Worte gekennzeichnet ist. Die symbolische Sprache und der unkonventionelle Aufbau des Gedichts verstärken seine eindrucksvolle Wirkung und machen es zu einem herausragenden Beispiel für Rilkes meisterhafte Lyrik.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Sohn“ des Autors Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Im Jahr 1906 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin / Leipzig, Stuttgart. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 420 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 88 Versen. Die Gedichte „Als ich die Universität bezog“, „Am Kirchhof zu Königsaal“ und „Am Rande der Nacht“ sind weitere Werke des Autors Rainer Maria Rilke. Zum Autor des Gedichtes „Der Sohn“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.
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