Die Irren I von Georg Heym

Papierne Kronen zieren sie. Sie tragen
Holzstöcke aufrecht auf den spitzen Knien.
Und ihre langen, weißen Hemden schlagen
Um ihren Bauch wie Königshermelin.
 
Ein Volk von Christussen, das leise schwebt
Wie große Schmetterlinge durch die Gänge,
Und das wie große Lilien rankt und klebt
Um ihres Käfigs schmerzliches Gestänge.
 
Der Abend tritt herein mit roten Sohlen,
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Zwei Lichtern gleich entbrennt sein goldner Bart.
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In dunklen Winkeln hocken sie verstohlen
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Wie Kinder einst, in Dämmerung geschart.
 
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Er leuchtet tief hinein in alle Ecken,
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Aus allen Zellen grüßt ihn Lachen froh,
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Wenn sie die roten, feisten Zungen blecken
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Hinauf zu ihm aus ihres Lagers Stroh.
 
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Dann kriechen sie wie Mäuse eng zusammen
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Und schlafen unter leisem Singen ein.
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Des fernen Abendrotes rote Flammen
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Verglühen sanft auf ihrer Schläfen Pein.
 
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Auf ihrem Schlummer kreist der blaue Mond,
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Der langsam durch die stillen Säle fliegt.
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Ihr Mund ist schmal, darauf ein Lächeln thront,
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Das sich, wie Lotos weiß, im Schatten wiegt.
 
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Bis leise Stimmen tief im Dunkel singen
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Vor ihrer Herzen Purpur-Baldachin,
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Und aus dem Äthermeer auf roten Schwingen
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Träume, wie Sonnen groß, ihr Blut durchziehn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Die Irren I“

Autor
Georg Heym
Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
182
Entstehungsjahr
1887 - 1912
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts „Die Irren I“ ist Georg Heym. Er wurde am 30. Oktober 1887 geboren und starb am 16. Januar 1912. Somit ist das Gedicht zeitlich der Epoche des Expressionismus zuzuordnen, welcher sich von circa 1910 bis 1925 erstreckt.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht melancholisch und düster, ist aber mit mystisch-energetischer Bildhaftigkeit verbunden.

Das Gedicht handelt von einer Gruppe von Menschen, die geistig verwirrt sind und sich in einer Art Irrenhaus befinden. Die Personen, die ausdrücklich als „Irre“ bezeichnet werden, tragen papierne Kronen und lange weiße Hemden, die sie wie Könige aussehen lassen. Sie werden zeilweise als „Volk von Christussen“ beschrieben, was auf ihre Unsicherheit, Abgeschlossenheit und zugleich ihre Reinheit hinweist. Sie gleichen großen Schmetterlingen, die leise durch die Gänge schweben, was wiederum ihre Zerbrechlichkeit, Wunsch nach Freiheit und zugleich ihre Vereinnahmung ausdrückt. Ihr Käfig, ein Symbol für ihre Einengung, bringt Schmerz und sie hängen daran wie Lilien, was ihre Schönheit und Bitterkeit unterstreicht. Der Abend tritt ein und erhellt ihre Ecken, sie grüßen ihn mit frohem Lachen, offenbaren jedoch zugleich ihre roten Zungen, die auf ihren inneren Zustand hinweisen. Sie kriechen zusammen wie Mäuse, ein Zeichen ihrer Hilflosigkeit und Angst, und schlafen unter leisem Gesang ein. Der Mond fliegt durch die stillen Säle und ihr Lächeln darauf ist wie ein Lotos, was an ihre Schönheit und zugleich an ihren anhaltenden Schmerz erinnert.

Formal besteht „Die Irren I“ aus sieben vierzeiligen Strophen, auch Quartette genannt. So ist die Strophenform recht klassisch, wirkt durch die konkreten, kräftigen Bilder aber expressionistisch.

Die Sprache des Gedichts ist gekennzeichnet durch starke Metaphorik und Symbolik, durch Anspielungen auf Religion und durch die Beschreibungen von Farben und Licht. Es dominiert eine stark emotionale, fieberhafte Ausdrucksweise, die typisch für den Expressionismus ist. Heym verbindet auf eindrucksvolle Weise die menschliche Verzweiflung und den Wunsch nach Freiheit mit Schönheit und Grazilität. All das trägt dazu bei, dass das Elend und die Traurigkeit der Personen fühlbar werden und die Atmosphäre auf uns wirkt. Dabei bedient sich Heym vorwiegend an Natursymbolen - Licht, Mond, Lilien, Schmetterlinge, Sonnen - um den Kontrast zwischen dem natürlichen Leben und dem der Irren zu verstärken und sie dennoch zu vereinen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die Irren I“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Georg Heym. Geboren wurde Heym im Jahr 1887 in Hirschberg. Das Gedicht ist in der Zeit von 1903 bis 1912 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Heym handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 182 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 28 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Die Gedichte „Berlin II“, „Berlin III“ und „Bist Du nun tot?“ sind weitere Werke des Autors Georg Heym. Zum Autor des Gedichtes „Die Irren I“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 79 Gedichte vor.

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