Warum gabst du uns die tiefen Blicke von Johann Wolfgang von Goethe

Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
unsrer Liebe, unsrem Erdenglücke
wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
uns einander in das Herz zu sehn,
um durch all die seltenen Gewühle
unser wahr Verhältnis auszuspähn?
 
Ach, so viele tausend Menschen kennen,
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dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
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schweben zwecklos hin und her und rennen
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hoffnungslos in unversehnen Schmerz;
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jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
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unerwart´te Morgenröte tagt.
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Nur uns armen liebevollen Beiden
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ist das wechselseitge Glück versagt,
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uns zu lieben, ohn uns zu verstehen,
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in dem anderen zu sehen, was er nie war,
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immer frisch auf Traumglück auszugehen
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und zu schwanken auch in Traumgefahr.
 
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Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt!
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Glücklich, dem die Ahndung eitel wär!
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Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
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Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
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Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
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Sag, wie band es uns so rein genau?
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Ach, du warst in abgelebten Zeiten
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meine Schwester oder meine Frau.
 
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Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
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spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
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konntest mich mit einem Blicke lesen,
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den so schwerlich ein sterblich Aug durchdringt;
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tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
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richtetest den wilden irren Lauf,
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und in deinen Engelsarmen ruhte
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die zerstörte Brust sich wieder auf;
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hieltest zauberleicht ihn angebunden
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und vergaukeltest ihm manchen Tag.
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Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
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da er dankbar dir zu Füßen lag,
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fühlt´ sein Herz an deinem Herzen schwellen,
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fühlte sich in deinem Auge gut,
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alle seine Sinne sich erhellen
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und beruhigen sein brausend Blut!
 
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Und von allem dem schwebt ein Erinnern
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nur noch um das ungewisse Herz,
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fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
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und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
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Und wir scheinen uns nur halb beseelet,
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dämmernd ist um uns der hellste Tag.
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Glücklich, dass das Schicksal, das uns quälet,
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uns doch nicht verändern mag!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.8 KB)

Details zum Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
309
Entstehungsjahr
1776
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

In dem Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“ von Johann Wolfgang von Goethe geht es um die innige, aber auch schmerzhafte Beziehung zwischen zwei Personen, die einander sehr gut kennen und lieben, sich aber in ihrer jetzigen Situation nicht völlig glücklich machen können. Es stellt die Frage, warum das Schicksal ihnen die Fähigkeit gegeben hat, so tief in das Herz des anderen zu blicken, ohne dass sie auf dieser Erde glücklich zusammen sein können.

Die beiden Liebenden haben das Gefühl, dass sie in einer vergangenen Zeit, vielleicht als Geschwister oder als Ehepaar, schon einmal miteinander verbunden waren. In dieser Zeit war ihre Beziehung geprägt von tiefer Harmonie und gegenseitiger Unterstützung, aber auch von einer gewissen Unbekümmertheit. Nun jedoch, in ihrem jetzigen Leben, ist ihre Beziehung von Unsicherheit, Sehnsucht und dem ewigen Streben nach einer Glückseligkeit geprägt, die sie jedoch nicht erreichen können.

Die beiden sehen sich in einem unglücklichen Zustand und fühlen sich nur halb lebendig. Sie erinnern sich an die wunderbaren Erlebnisse der Vergangenheit, aber auch an unerklärliche Gefühle der Trauer, die sie damals vielleicht schon empfanden. Sie wünschen sich, dass das Schicksal ihre Liebe verwandeln könnte, um ihre Beziehung vor den Qualen der Gegenwart zu bewahren.

Die Aussage des Gedichts ist, dass wahre Liebe manchmal von Sehnsucht, Schmerz und dem Streben nach einem unerreichbaren Glück geprägt sein kann. Diese Liebe ist trotz allem stark und echt, kann aber in ihrer jetzigen Situation nicht vollständig ausgelebt werden. Es zeigt auch, dass das Schicksal einen ungewissen und grausamen Einfluss auf die Liebenden haben kann - in ihrem Fall bleibt ihnen nur die Hoffnung, dass sie trotz der Umstände irgendwann ihr Glück finden werden.

Weitere Informationen

Johann Wolfgang von Goethe ist der Autor des Gedichtes „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“. Goethe wurde im Jahr 1749 in Frankfurt am Main geboren. 1776 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet wird. Die Epoche ordnet sich nach der Literaturepoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um junge Autoren. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik ist eine Epoche der Literatur, die insbesondere von den Dichtern Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller geprägt wurde. Goethes Italienreise im Jahr 1786 markiert den Beginn der Epoche. Das Todesjahr von Goethe, 1832, markiert das Ende der Weimarer Klassik. In der Literaturepoche sind Einflüsse der Französischen Revolution festzustellen. Literarisches Zentrum und Ausgangspunkt der Weimarer Klassik (kurz auch häufig einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Die Klassik orientiert sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Sie strebt nach Harmonie ganz im Gegensatz zur Epoche der Aufklärung und des Sturm und Drangs. In der Gestaltung wurde das Gesetzmäßige, Wesentliche, Gültige aber auch der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Schiller, Goethe, Herder und Wieland bildeten das „Viergestirn“ der Klassik. Es gab natürlich auch noch weitere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das vorliegende Gedicht umfasst 309 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 52 Versen. Weitere Werke des Dichters Johann Wolfgang von Goethe sind „An Lida“, „An den Mond“ und „An den Schlaf“. Zum Autor des Gedichtes „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 1618 Gedichte vor.

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