Bange Stunde von Karl Kraus

Gebannt steh’ ich auf diesem Fleck
und kann nicht zurück und kann nicht weg
und suche mit dreimal flehenden Händen,
ein sicheres Schicksal abzuwenden.
Alles um mich in den bangen Stunden
hat Macht über mich, der gebannt und gebunden.
Gelingt’s mir, nur dies und nicht das zu denken,
so wird mich mein Wille zum Ausgang lenken,
und ich weiß mir, der Sklave dem Herren, Dank,
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entrinn’ ich nur diesmal noch meinem Zwang.
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Dort wäre der Weg: wo der Zweifel steht,
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ob rechts oder links es sich besser geht.
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Ich könnte fliegen, ich möchte eilen,
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und geschwind noch beschwör’ ich die Zeit, zu verweilen.
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Ich schlage mich durch, ich krieche und hinke,
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wie fass’ ich die Klinke? Wie faßt mich die Klinke!
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Schnell könnten drei Wünsche mir noch verderben:
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Herrgott, so laß meine Freunde nicht sterben —
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was hältst du mich, scheinbare Vorhangfalte,
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was will mir das Fiebergesicht, das alte —
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Gott, rette mir jenen, behüte mir diesen,
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bewahr ihm das Auge für Wunder und Wiesen —
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wie kränkt’ ich mich damals, ich wollte nicht warten,
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denn ich war krank und die andern im Garten,
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eine Spieldose hat die Gavotte gespielt,
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ein Gesicht im Vorhang hat nach mir gezielt —
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Gott, hilf ihnen, die die Zeit mir verwehte,
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und die längst nicht glauben, daß ich für sie bete,
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und jenen, die du zu dir schon entboten,
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vergiß nicht die Toten, vergiß nicht die Toten!
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der Einen aber hier auf dem Bilde,
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es lächelt zu meinem Aufruhr so milde,
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und dieser aber, o daß ich’s nicht dächte,
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wenn nicht das Denken Erfüllung mir brächte,
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ihr mögest du Leben und Leben und Leben
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in vielfach lebendiger Fülle geben
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und wirken, daß ihr in unendlichen Lenzen
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wie Sonne und Mond die Züge erglänzen,
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und für mich selbst, o hör den unendlichen Jammer,
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bitt’ ich, daß ich in dieser Kammer,
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geschmiedet an aller Erden Qual
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mich zu Formen erlöse ohne Zahl,
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und aus dem vorbestimmten Kreise
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mir erbarmungslos und ausnahmsweise
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gestattet wäre zu entrinnen,
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um immer von neuem zu beginnen,
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denn es lähmt mir das Herz, daß einst hinter mir
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sich schließe die vorbereitete Tür,
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und an dem Gedanken, mich nicht zu beerben,
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würd’ ich ganz sicher noch einmal sterben!
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Laß es nicht zu und lasse mich bleiben,
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und bin ich erst fertig, beginn’ ich zu schreiben,
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denn dem das Wort den Ursinn gelichtet,
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sieh, der hat nie zu Ende gedichtet,
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und war ich stets des Anfangs gewärtig,
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war Leben im Wort: so werd’ ich nicht fertig!
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H i e r ist mir ein heiliges Räthsel gewesen,
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ich habe in Hieroglyphen gelesen.
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Nie lass’ ich das dreimal lebendige Wort,
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verstummend in dein undenkliches Dort,
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nie lass’ ich den Streit und den Zweifel hiernieden
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für jenen unwiderleglichen Frieden.
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Nie mögst du von diesem Sessel mich heben.
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Lieber den Tod als nicht mehr zu leben!
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Nicht feige fleh’ ich um meine Errettung;
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doch hängen in blutig gespürter Verkettung
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an meiner Gestalt die vielen Gestalten,
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die du zu bewahren mir vorbehalten,
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und in dem schmerzbeseligten Bund
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unzählige Stimmen an meinem Mund.
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Sie nachzuschaffen hast du mich gelehrt,
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die von dir sich zum eigenen Abbild verkehrt;
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und gleich’ ich nicht jenen, die du erschaffen,
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so kannst du mich nicht zu dir entraffen.
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Drum laß aus dem marschbereiten Haufen
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zurück mich in deine Ewigkeit laufen,
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und gib mich mir wieder Stück um Stück!
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Mit Macht reiß’ ich sonst mein Gedächtnis zurück,
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um nimmer zu denken, was noch nicht geschah —
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ich will ja nicht weg, ich bleibe doch da!
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Was ist das nur heut, was ist das nur hier,
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wie dreht sich und droht mir, wie knarrt mir die Tür,
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wie rennt mir die Stunde in rasendem Lauf,
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wie halten mich alle die Dinge hier auf,
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und Falten und Kanten, sie starren mich an,
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des Zufalls unseligsten Untertan!
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Gebannt und gebunden steh’ ich auf dem Fleck,
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und kann nicht zurück, und will nicht weg —-.

Details zum Gedicht „Bange Stunde“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
88
Anzahl Wörter
642
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht mit dem Titel „Bange Stunde“ ist von Karl Kraus, einem österreichischen Schriftsteller, der von 1874 bis 1936 lebte. Das bekannteste Werk von Kraus ist die Zeitschrift „Die Fackel“, in welcher er seine satirischen und oft beißend scharfen Kritiken an der Gesellschaft seiner Zeit äußerte.

Auf den ersten Blick ist „Bange Stunde“ ein zutiefst persönlicher und emotionaler Text, in dem das lyrische Ich große innere Unruhe und seelische Qual zeigt. Es wird auf einen Moment einer existentiellen Krise, einer 'bangen' oder ängstlichen Stunde, hingewiesen, in dem das lyrische Ich scheinbar an einem Wendepunkt seines Lebens steht.

Inhaltlich spiegelt das Gedicht eine tiefe innere Zerrissenheit wider. Das lyrische Ich fühlt sich gebannt, d.h. gefangen oder gezwungen, an einem bestimmten Punkt zu verharren (Vers 1 und 87). Es fühlt sich unfähig zu handeln, unfähig zu entscheiden, ob es zurückkehren oder fortfahren soll („und kann nicht zurück und kann nicht weg“ - Vers 2 und 88). Dieses Gefühl der Unfähigkeit und Zwang, gepaart mit einer intensiven Angst und Sorge um geliebte Menschen („Herrgott, so laß meine Freunde nicht sterben“ - Vers 18), schafft eine Atmosphäre der inneren Qual und lähmenden Unsicherheit, die das gesamte Gedicht durchdringt.

Das Gedicht nimmt auch Bezug auf das Schreiben und Dichten. Es wird der Wunsch geäußert, immer wieder neu anfangen zu können (Vers 46), niemals fertig zu werden (Vers 56) und ewig im 'heiligen Rätsel' des Schreibens zu verharren (Vers 57), um so vor dem 'undenklichen Dort' des Todes geschützt zu sein (Vers 60).

Das 88-zeilige Gedicht ist in freien, unregelmäßigen Versen verfasst und weist somit keinerlei Reimstruktur oder vorgegebenes Metrum auf. Der Ausdruck ist deutlich und direkt mit einem reichen und bildhaften Wortschatz, der dazu beiträgt, die Intensität der inneren Zerrissenheit des lyrischen Ichs zu vermitteln.

Kraus' Sprache ist gekennzeichnet von wiederkehrenden Motiven und Begriffen wie „gebunden“, „gebannt“, „Zwang“, die das Gefühl der Unbeweglichkeit und Unsicherheit unterstreichen. Interessant ist die wiederholte Verwendung der Dualität von denken/handeln, schreiben/leben, innere/äußere Welt und wie sie auf die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs hinweisen.

Insgesamt scheint „Bange Stunde“ einen tiefen Einblick in die seelische Not und Zwiespalt eines Individuums zu geben, das sich an einem kritischen Punkt seines Lebens befindet. Es wirft Fragen über die Natur der menschlichen Existenz und kreativen Expression auf und zeigt eindrucksvoll den Schmerz und die intensive Emotionalität, die solche betrüblichen und kritischen Augenblicke begleiten können.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Bange Stunde“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Kraus. Der Autor Karl Kraus wurde 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1920 zurück. Der Erscheinungsort ist München. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 88 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 642 Worte. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „Abschied und Wiederkehr“, „Alle Vögel sind schon da“ und „Als Bobby starb“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Bange Stunde“ weitere 61 Gedichte vor.

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