Alle Vögel sind schon da von Karl Kraus

Das Zimmer schweigt und vor dem Fenster
brütet der Sonntag seinen Plan,
führt auf dies stumme Ab und An,
die Pantomime der Gespenster.
 
Und rechts und links in meinem Zimmer
hängt was gewesen an der Wand,
ein toter Freund reicht seine Hand
und was gewesen ist, bleibt immer.
 
Es schweigt mich an wie eine Sage,
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ein jedes Ding von seinem Ort.
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Die heimgegangne Göttin dort
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ruft des Geschlechtes heilige Klage.
 
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Wie laut wird alles, was da schweigt.
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Nun bin ich schon im frühsten Alter.
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Da wird die Stille rings zum Psalter,
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zu dem des Nachbars Junge geigt.
 
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Des ersten Frühlings Glückerleben
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wird wieder mir so greifbar nah.
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Ach, „alle Vögel sind schon da“!
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Ich seh' sie durch das Zimmer schweben.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.5 KB)

Details zum Gedicht „Alle Vögel sind schon da“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
20
Anzahl Wörter
120
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Alle Vögel sind schon da“ stammt von Karl Kraus, einem österreichischen Schriftsteller, Satiriker und Publizisten, der von 1874 bis 1936 lebte. Es kann daher in die literarische Epoche des Expressionismus eingeordnet werden, die von circa 1910 bis 1925 andauerte und von einer intensiven Darstellung der Innenwelt geprägt war.

Auf den ersten Blick erzeugt das Gedicht eine melancholische, fast geisterhafte Stimmung. Es vermittelt das Bild eines stillen, heimischen Raumes, in dem die Vergangenheit noch immer präsent ist.

Inhaltlich erzählt das Gedicht von der Erfahrung der Stille an einem Sonntagnachmittag. Die Stille bringt die Vergangenheit in den Vordergrund und wirkt beinahe wie ein Gespenst oder eine „heilige Klage“. Diese Stille ist jedoch nicht leise, sondern wird als intensiv und laut beschrieben. Durch die Stille wird die Vergangenheit lebendig und erlebbar, symbolisiert durch den fröhlichen Klang einer Geige und das Bild von Vögeln, die durch das Zimmer schweben.

Das lyrische Ich scheint der Vergangenheit gegenüber eine melancholische und leicht nostalgische Haltung einzunehmen. Es suggeriert eine Trennung oder einen Verlust, vielleicht durch den Tod eines Freundes, und spricht von einer 'heimgegangenen Göttin'. Die Erinnerungen sind jedoch nicht nur traurig, sondern auch schön, da sie das „Glückerleben des ersten Frühlings“ und die Anwesenheit von Vögeln hervorrufen.

In Form und Sprache ist das Gedicht in einem ruhigen, bedächtigen Ton gehalten und spiegelt so die Stille und Ruhe des Sonntags wieder. Im Gegensatz zur Stillen und Kargheit der ersten Strophe wird die Sprache im Verlauf des Gedichts lebhafter und leuchtender, was die wiedererweckten Erinnerungen und die zunehmende Lebendigkeit der Stille widerspiegelt. Das Gedicht ist in freien Versen verfasst, wobei jede Strophe vier Verse umfasst und somit ein regelmäßiges, rhythmisches Muster geschaffen wird. Die Sprache ist ausdrucksstark und enthält bedeutungsschwangere Metaphern wie die „Pantomime der Gespenster“ und die „heilige Klage des Geschlechts“.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Alle Vögel sind schon da“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Kraus. Der Autor Karl Kraus wurde 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 20 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 120 Worte. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „Abschied und Wiederkehr“, „Als Bobby starb“ und „An den Schnittlauch“. Zum Autor des Gedichtes „Alle Vögel sind schon da“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 61 Gedichte vor.

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