Abschied und Wiederkehr von Karl Kraus

Löst sich die Lust von ihrem letzten Lohn,
so klammert sich ans Herz ein Klageton.
 
O ewiger Abschied ewiger Wiederkehr —
wohin entrinnst du und wo kommst du her!
 
Du Echo, das mit einer Nymphe ruft
in der Geschlechter unnennbare Kluft!
 
Du Stimme, die mit einer Nymphe weint,
weil die Natur so trennt, was sie vereint —
 
Schmerzvoller Nachhall der Unendlichkeit!
10 
Du Angst des Blickes in die Endlichkeit!
 
11 
Durch alle Schöpfung blutet dieser Riß —
12 
Echo klagt immer wieder um Narziß.
 
13 
Hat es der Schöpfer denn gewollt, gewußt?
14 
Lust so von Lust verkürzt, ergibt Verlust.
 
15 
Lebendige Lust, du klagst am Sarg der Lust,
16 
von deren Tod du selber sterben mußt.
 
17 
Du Grabwind, Leid und Lied zum eignen Grab,
18 
du willst nicht in den finstem Tag hinab.
 
19 
So leuchtend war die Nacht; der Tag ist grau.
20 
Entläßt die Nacht den Tag, so weint sie Thau.
 
21 
Stumm ist die Wonne, der das Wort entspringt.
22 
Lust weckt den Geist, der ihr kein Wort entringt.
 
23 
Du letzter Laut, der mir von weit her spricht,
24 
mir wird die Sprache, du bist das Gedicht!
 
25 
Du reichstes Glück, das im Gewinn verlor,
26 
du größte Kraft, die an der Glut erfror,
 
27 
du Augenblick der Liebestodesangst,
28 
der du dich selber zu verlieren bangst —
 
29 
verweile Augenblick, du bist so schön!
30 
Ich sag's zu ihm. Ich hab das Aug gesehn!
 
31 
L e g e n d e
 
32 
Doch ist er fort. Sie hat ihn mitgenommen
33 
beim Abschied ihrer selbst. Ich stand beklommen.
 
34 
Wie alles Licht in Rauch und Nebel schwand —-
35 
ein armes Hündchen plötzlich vor mir stand.
 
36 
Sah zu mir auf und hatte ihren Blick.
37 
Ließ sie mir ihn als Unterpfand zurück?
 
38 
Und wie es wimmernd immer zu mir schaut,
39 
so war’s ihr Schmerz, so war’s ihr Klagelaut.
 
40 
Ihr Abschied war’s und war ihr Wiedersehn –
41 
die Zeit bleibt stehn, ein Wunder ist geschehn.
 
42 
Dies Auge, diesen Ton hab ich gekannt!
43 
Vergehendes ist in die Zeit gebannt.
 
44 
Die lustverlorne Göttin ward ein Schall;
45 
er rief mich aller Wände aus dem All.
 
46 
Nun ruf’ ich ihn zurück; ich warte hier –
47 
da ruft er mich verwandelt aus dem Tier.
 
48 
Wir kennen uns, ich und die Kreatur –
49 
es ist ein Wunder: glaubet, glaubet nur!
 
50 
Die letzte Spur vom Glück ist neues Glück.
51 
Das Echo ging, ein Echo blieb zurück.
 
52 
Leid klagt um Lust, ich klage um das Leid;
53 
nun ist es da, so ist die Lust nicht weit.
 
54 
Verlorner Lust verlorne Klage klingt.
55 
Ich höre nur, daß jetzt ein Engel singt.
 
56 
Verlorner Lust verlorner Ton ertönt.
57 
Ich sehe eine Seele, die sich sehnt
 
58 
und wiederkehrt. Der Abschied ist ein Spiel.
59 
Sie ging und suchte, bis sie hin zum Ziel,
 
60 
vorbei der Menschheit, irdisch unerkannt,
61 
den Weg durch ein verlornes Hündchen fand.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.8 KB)

Details zum Gedicht „Abschied und Wiederkehr“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
31
Anzahl Verse
61
Anzahl Wörter
447
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Abschied und Wiederkehr“ wurde von Karl Kraus verfasst, der von 1874 bis 1936 lebte. Dieser Zeitspanne umfasst das Fin de Siècle, den Ersten Weltkrieg und die zwischenkriegszeit, eine Zeit der tiefgreifenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Veränderungen.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht als Beschäftigung des lyrischen Ichs mit den universellen Themen der Vergänglichkeit, des Abschieds und der Wiederkehr. Erkennbar ist dies schon allein im Titel, aber auch durch die wiederkehrende Verwendung des Wortes „Lust“, im Sinne von Lebenslust.

Das lyrische Ich ringt mit der Vergänglichkeit und Endlichkeit des menschlichen Lebens, wird aber in der Introspektion von einer Hoffnung getröstet - der Wiederkehr. Dies kann sowohl als eine Versinnbildlichung des zyklischen Verlaufs des Lebens selbst, beispielsweise durch Wiedergeburt oder Reinkarnation, gesehen werden, aber auch als eine Anspielung auf die Wiederkehr von Erinnerungen und Gefühlen, die an vergangene Erlebnisse geknüpft sind.

In Bezug auf Form und Sprache ist das Gedicht durch einen flüssigen, musikalischen Rhythmus geprägt, was für Karl Kraus typisch ist. Das Gedicht besteht aus vielen Zwei-Vers-Strophen, die jeweils ein abgeschlossenes Bild ergeben, aber auch ein großes Gesamtbild formen. Die Sprache ist zum Teil hochpoetisch und metaphorisch, aber dennoch klar und präzise. Es werden zahlreiche Anspielungen auf mythologische Figuren wie Narziss und die Nymphe gemacht, wodurch das Gedicht eine allegorische Komplexität erhält.

Die Hauptbotschaft des Gedichtes scheint die unausweichliche Vergänglichkeit des Lebens und der Lust zu sein, der jedoch durch die wiederkehrende Hoffnung auf Wiederkehr und Wiedergeburt entgegnet wird. Dies wird besonders deutlich in den Strophen, in denen das lyrische Ich ein „Hündchen“ als Repräsentant der Wiederauferstehung beschreibt. Das lyrische Ich erlebt die Verwandlung des Vergänglichen in Unvergängliches und die Hoffnung auf Wiederkehr, auch in scheinbar aussichtsloser Situation.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht „Abschied und Wiederkehr“ ein tiefsinniges, emotional entwickeltes Meisterwerk von Karl Kraus ist, das sich intensiv mit den Themen Vergänglichkeit und Wiederkehr auseinandersetzt und durch seine metaphernreiche, musikalische Sprachgebung und seine klare, aber komplex strukturierte Form überzeugt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Abschied und Wiederkehr“ ist Karl Kraus. Der Autor Karl Kraus wurde 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1920 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist München. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das Gedicht besteht aus 61 Versen mit insgesamt 31 Strophen und umfasst dabei 447 Worte. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „Abenteuer der Arbeit“, „Absage“ und „Alle Vögel sind schon da“. Zum Autor des Gedichtes „Abschied und Wiederkehr“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 61 Gedichte vor.

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