An einen alten Lehrer von Karl Kraus
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Da neulich sah ich wie in der Jugendzeit |
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Dich weißen Hauptes, irgendwohin den Blick |
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Gerichtet nach einer Vokabel, |
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Welche ein Schüler verloren hatte. |
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Ein andrer mußte, nicht auf den Ruf gefaßt, |
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Eh er sich fassen konnte, sie fassen schon, |
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Und war auch er es nicht imstande, |
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Nanntest du es eine Seelenroheit. |
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Von strenger Milde war dieser Unterricht. |
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Du guter Lehrer hattest den Schüler gern. |
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Doch näher deinem reinen Herzen |
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Lag wohl das Wohl eines armen Wortes. |
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Latein und Deutsch: du hast sie mir beigebracht. |
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Doch dank ich Deutsch dir, weil ich Latein gelernt. |
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Wie wurde deutsch mir, als ich deinen |
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Lieben Ovidius lesen konnte! |
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Denn jenes wahrlich machte mir Schwierigkeit. |
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Mir fehlten Worte, und es gelang mir nicht, |
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Den Frühling, den ich erst erlebte, |
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In einem Aufsatz auch zu beschreiben. |
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Ovid ja selber hätte es nicht vermocht, |
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Und Goethe länger als eine Stund gebraucht – |
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Wie sollte es ein Schulbub treffen, |
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Wenn er nicht grade ein Journalist war? |
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Du guter Lehrer wußtest das nur zu gut. |
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Du übtest Nachsicht und weil ich in Latein |
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Doch vorzüglich bestanden hatte, |
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Gabst du in Deutsch mir nicht nichtgenügend. |
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So kam ich durch und besserte später mich, |
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Weil ich es fühlte, daß ich dir schuldig war, |
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Im deutschen Aufsatz nach der Schule |
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Deinen Erwartungen zu entsprechen. |
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Hätt’ ich schon damals gleich zwischen acht und neun |
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So Deutsch geschrieben, wie zwischen zehn und elf |
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Latein ich las, wär’ diese Ode |
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Diese horazische nicht entstanden. |
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Nimm diese Fleißaufgabe als Jugendgruß. |
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Denn du stehst milde heute wie einst vor mir. |
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In Bild und Wort bist du mir nahe, |
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Als ob ich heute noch vor dir säße. |
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Ich sehe dich, wie du mit der feinen Hand |
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Die Stirn dir streichst, die sorgende, als ob du |
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Ein krankes Wort betreuen müßtest — |
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Heilige Pflicht vor profanen Zeugen. |
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Schneeweiß wie damals, neigend den Kopf, doch hoch |
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Den Sinn wie damals, traf ich dich auf dem Weg |
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Zur Schule neulich und es war mir, |
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Daß ich mit dir in die Schule ginge. |
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Wohin verlor sich, sag mir, dein Altersblick, |
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Mir unverloren? Lehrest du immer noch |
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Verlorner Gegenwart die Sprache? |
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Folg mir und lasse die Klasse fallen! |
Details zum Gedicht „An einen alten Lehrer“
Karl Kraus
13
52
353
1920
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „An einen alten Lehrer“ wurde von Karl Kraus verfasst. Kraus wurde am 28. April 1874 geboren und verstarb am 12. Juni 1936, was das Gedicht in den Kontext des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts einordnet.
Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht nostalgisch und reflektierend. Es handelt von wiederentdeckten Erinnerungen an Schulzeiten und die wieder gefundene Anerkennung für den Wert eines guten Lehrers.
Kraus erzählt von einem kürzlich erfolgten Wiedersehen mit einem ehemaligen Lehrer und fängt dabei ein lebhaftes Bild ein. Das lyrische Ich beschreibt den Lehrer mit seinem weißen Haar, wie er nach den richtigen Wörtern oder „Vokabeln“ sucht. Er zeichnet ausdrucksstark die Wertschätzung des Lehrers gegenüber der Sprache und seiner Lehrtätigkeit. Der Lehrer erscheint voller Geduld und Verständnis, obwohl der Autor einräumt, dass er Schwierigkeiten mit dem Schreiben in seiner Muttersprache hatte. Aber aufgrund seiner Fähigkeiten in Latein erhielt er keine schlechte Note im Deutsch-Unterricht. Dies schätzte er und machte es sich zur Pflicht, später in Deutsch besser zu werden.
In Stil und Form folgt das Gedicht traditionellen Versanordnungen und verwendet einen ehrfürchtigen und zugleich persönlichen Ton. Die Sprache ist durchdrungen von Gefühl und Nachdenklichkeit, was die Verbundenheit des lyrischen Ichs mit dem alten Lehrer hervorhebt. Es verbindet humorvoll Schreibschwierigkeiten mit seinen Respekt vor der Sprache und zeichnet damit auch ein ehrliches Selbstbild.
Das Gedicht drückt Anerkennung, Vertrauen und Bewunderung aus und erzählt die Geschichte einer prägenden, anscheinend lebenslangen Beziehung. Es hebt die Wichtigkeit von Pädagogen in der individuellen Bildung eines jungen Menschen hervor. Kraus' elegante und einfühlsame Worte verkörpern somit sowohl eine Hommage an einen bestimmten Lehrer als auch eine Wertschätzung für das Lehren als Berufung.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An einen alten Lehrer“ des Autors Karl Kraus. Geboren wurde Kraus im Jahr 1874 in Jičín (WP), Böhmen. Im Jahr 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zu. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das 353 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 52 Versen mit insgesamt 13 Strophen. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „Bange Stunde“, „Bekenntnis“ und „Der Bauer, der Hund und der Soldat“. Zum Autor des Gedichtes „An einen alten Lehrer“ haben wir auf abi-pur.de weitere 61 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Karl Kraus sind auf abi-pur.de 61 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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