Abenteuer der Arbeit von Karl Kraus

Was leicht mir in den Schoß fiel,
wie schwer muß ich’s erwerben,
bang vor des Worts Verderben.
O daß mir dieses Los fiel!
 
Zuerst war’s in der Hand mir,
dann wollt’ es sich entfernen,
da mußt’ ich suchen lernen;
es schwindelt der Verstand mir.
 
Das Wort hier ist ein Zunder
10 
für das an jener Stelle.
11 
Gleich brennt die ganze Hölle.
12 
Das Wort ist mir ein Wunder.
 
13 
Wie öffnet es die Lider,
14 
die sonst geschlossen waren.
15 
Hier gibt es nur Gefahren.
16 
Ich kenn’ das Wort nicht wieder.
 
17 
Tausch’ ich es, wird’s mich täuschen.
18 
Wie es sich an mich klettet,
19 
seitdem ich es gerettet
20 
aus vielfachen Geräuschen.
 
21 
Das was mir einfiel, hat mich,
22 
der ich’s nie haben werde,
23 
ich steh’ auf schwanker Erde
24 
und setze selber matt mich.
 
25 
Ich wähl’ im Zweifelsfalle
26 
von zweien Wegen beide.
27 
Ich röste mich am Leide,
28 
bin in der Teufelsfalle.
 
29 
Ein unerschrockner Tadler
30 
will ich mir nichts erlauben,
31 
als aus dem reinsten Glauben
32 
zu spielen Kopf und Adler.
 
33 
Und wenn der Kopf aufs Wort kam,
34 
der Adler fällt getroffen –
35 
so blieb der Zweifel offen,
36 
ich weiß nicht, wie ich fortkam.
 
37 
Wer mit dem Geist verwandt ist,
38 
in Bildern und in Schemen
39 
die Welt beim Wort zu nehmen –
40 
beim Himmel kein Pedant ist!
 
41 
In sprachzerfallnen Zeiten
42 
im sichern Satzbau wohnen:
43 
dies letzte Glück bestreiten
44 
noch Interpunktionen.
 
45 
Wie sie zu rasch sich rühren,
46 
wie sie ins Wort mir zanken –
47 
ein Strich durch den Gedanken
48 
wird mich ins Chaos führen ;
 
49 
obgleich ein Strichpunkt riefe ,
50 
dem Komma nicht zu trauen :
51 
ein Doppelpunkt läßt schauen
52 
in eines Abgrunds Tiefe !
 
53 
Dort droht ein Ausrufzeichen
54 
wie von dem jüngsten Tage.
55 
Und vor ihm kniet die Frage:
56 
Läßt es sich nicht erweichen ?
 
57 
Wie ich es nimmer wage,
58 
und wie ich’s immer wende,
59 
ein Werk ist nie zu Ende –
60 
am Ausgang steht die Frage.
 
61 
Und eh’ mein Herz verzage,
62 
den Ausgang zu erreichen,
63 
setz’ heimlich ich ein Zeichen –
64 
dem Zeichen folgt die Frage.
 
65 
Es zündet immer weiter
66 
der Blitz, der mich zerrissen.
67 
Mein eignes besseres Wissen
68 
will Antwort vom Begleiter.
 
69 
Mit angstverbrannter Miene
70 
stock’ ich vor jeder Wendung,
71 
entreiß’ mich der Vollendung
72 
durch eine Druckmaschine.
 
73 
Wie schön ist es gewesen,
74 
am Wege waren Wonnen.
75 
Was heimlich süß begonnen,
76 
nun werden’s Leute lesen.
 
77 
O Glück im Wortverstecke
78 
des unerlösten Denkens,
79 
Versagens und sich Schenkens –
80 
was bog dort um die Ecke?
 
81 
Noch nicht erseh’n, ersehn’ ich’s.
82 
Vorweltlich Anverwandtes,
83 
eh’ ich’s gesetzt hab’, stand es,
84 
und nun mir selbst entlehn’ ich’s.
 
85 
Entzückung fand der Gaffer
86 
am tausendmal Geschauten.
87 
Aus tagverlornen Lauten
88 
erlöst er die Metapher.
 
89 
Im Hin- und Wiederfluten
90 
der holden Sprachfiguren
91 
folgt er verbotnen Spuren
92 
posthumer Liebesgluten.
 
93 
In Hasses Welterbarmung
94 
verschränkt sich Geist und Sache
95 
zu weltverhurter Sprache
96 
chiastischer Umarmung.
 
97 
Wer sprechen kann, der lache
98 
und spreche von den Dingen.
99 
Mir wird es nie gelingen,
100 
sie bringen mich zur Sprache.
 
101 
Das Wort trieb mit den Winden
102 
und spielt mit Wahngestalten.
103 
Im Wortspiel sind enthalten
104 
Gedanken, die mich finden.
 
105 
Wenn ich so weiter fortspiel’,
106 
vor solchem kühnen Zaudern
107 
wird es die Nachwelt schaudern.
108 
Denn alles war im Wortspiel.
 
109 
Dem ewigen Erneuern,
110 
zum Urbild zu gelangen,
111 
entrinn’ ich nur, gefangen
112 
in neuen Abenteuern.
 
113 
Durch jedes Tonfalls Fessel
114 
gehemmt aus freien Stücken,
115 
erlebt sich das Entrücken
116 
auf einem Schreibtischsessel.
 
117 
Was leicht mir in den Schoß
118 
wie schwer muß ich’s erwerben,
119 
bang vor des Worts Verderben.
120 
O daß mir dieses Los fiel!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33.6 KB)

Details zum Gedicht „Abenteuer der Arbeit“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
30
Anzahl Verse
120
Anzahl Wörter
561
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Der Autor dieses Gedichts ist Karl Kraus, ein österreichischer Schriftsteller und Journalist, der von 1874 bis 1936 lebte. Die zeitliche Einordnung lässt sich als Spätphase des literarischen Realismus bis hin zur Moderne bestimmen, wobei Kraus als scharfer Kritiker seiner Zeit bekannt war.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht komplex und durchdrungen von sprachlicher und metaphorischer Spielerei. Kraus thematisiert den kreativen Prozess des Schreibens, die damit verbundenen Schwierigkeiten, Ängste, Zweifel und die Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken und Gefühlen.

Das lyrische Ich drückt aus, wie herausfordernd der Prozess des Schreibens ist. Anfangs scheint alles leicht und selbstverständlich, doch bald beginnen die Worte sich zu weigern, sich entziehen und dem Verstand zu entgleiten. Der Schreibprozess wird als Nahtstelle zwischen himmlischer Inspiration und irdischer Schwerarbeit dargestellt, wobei der lyrische Sprecher den kreativen Prozess als chaotisches, ständig unterbrochenes und nie vollendetes Abenteuer beschreibt.

Das Gedicht ist in vierzeilige Strophen unterteilt, die in regelmäßigem Wechsel geschrieben sind. Die Sprache ist gleichzeitig lyrisch und sparsam, mit einer starken Betonung der Syntax und Wortspielereien. Kraus spielt mit dem Konzept des geschriebenen Wortes, seiner Bedeutungen und Interpretationen, sowie seiner Unzuverlässigkeit und Unvorhersehbarkeit.

Besonders bekannt ist Kraus für seine präzise Sprachbeherrschung und sein Interesse an Satzbau und Interpunktion, was sich auch in diesem Gedicht zeigt. Er thematisiert den Einfluss von Satzzeichen auf die Bedeutung des Geschriebenen und bringt seine Angst vor Fehlinterpretation und Chaos durch falsche Interpunktion zum Ausdruck.

Das Gedicht zeugt von einem Ringen mit dem kreativen Prozess sowie dem Leiden und der Zweifel, die damit einhergehen. Es gewährt einen tiefen Einblick in die innere Landschaft des kreativen Individuums, das ständig zwischen Inspiration und Verzweiflung, zwischen Leichtigkeit und Anstrengung, zwischen Fertigstellung und ständiger Überarbeitung balanciert. Die Worte selbst erscheinen als lebendige, widerspenstige Geschöpfe, die sich dem Zugriff des Autors entziehen und ihn gleichzeitig herausfordern und inspirieren.

Kraus' Gedicht ist ein intensives, selbstreflexives Stück, das die Abgründe und Höhenflüge des kreativen Prozesses mit scharfsinniger Beobachtung und einnehmender Ehrlichkeit beleuchtet. Es ist ein Zeugnis der Dichtkunst, die den Leser dazu einlädt, die ausgetretenen Pfade des Verstandes zu verlassen und sich in die faszinierenden, herausfordernden Abenteuer des kreativen Prozesses zu begeben.

Weitere Informationen

Karl Kraus ist der Autor des Gedichtes „Abenteuer der Arbeit“. Der Autor Karl Kraus wurde 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zu. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 561 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 120 Versen mit insgesamt 30 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Karl Kraus sind „Auferstehung“, „Aus jungen Tagen“ und „Bange Stunde“. Zum Autor des Gedichtes „Abenteuer der Arbeit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 61 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Karl Kraus (Infos zum Autor)

Zum Autor Karl Kraus sind auf abi-pur.de 61 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.