Kranzgedicht zur silbernen Hochzeit der Eltern von Richard Dehmel

1	Fast scheu' ich mich, Euch diesen Kranz zu reichen,
2	der deutungsvoll sich um zwei Leben schlingt
3	so liebeheilig mir, daß tief im weichen
4	Gefühle ringend mir das Wort versinkt ...
5	Doch schön're Sprache, als sie je ertönte,
6	von jedem dieser lichten Blättchen blinkt;
7	von jedem Glück, das euern Weg verschönte,
8	von jeder Sorge spricht sie, jedem Leid,
9	mit denen Kraft und Liebe Euch versöhnte.
10	Erinnrung heißt die Sprache, und sie reiht
11	so seltsam ineinander Traum und Leben,
12	daß Augenblick und längst versunkne Zeit
13	zu reichsten Wirklichkeiten sich verweben.
14	Und so, aus dieses Kranzes Schimmerschein,
15	Gestalten seh' ich, Bilder sacht sich heben:
16	die Zweiglein schlank, die Blättchen zierlich fein
17	empor zu Stamm und Laubwerk vor mir schießen
18	in Eures Lebens Garten tret' ich ein,
19	oh leuchtend Bild! ich muß die Augen schließen ...
20	Ich seh' euch wandeln. Frühlingsrein die Luft
21	der Hoffnung bunte Blumen um euch sprießen,
22	aus allen Kelchen quillt Ein Glanz, Ein Duft,
23	und vor euch liegt ein Pfad, den zu beschreiten
24	das Vöglein Glück euch lieblich lockend ruft ...
25	Schon wallt ihr ihn; und an des Weges Seiten
26	in langer Reihe seh' ich Paar an Paar
27	fruchtschwere Bäume ihre Zweige breiten,
28	als wollte Tag für Tag und Jahr um Jahr
29	der Sommer eures Wirkens mir sich künden.
30	Und dichter seh' ich, wie vor Sturmgefahr,
31	die starken Aeste ihren Wuchs verbünden
32	zu einem schirmend festen Wetterdach,
33	um vor des Menschenlebens Weh und Sünden,
34	vor des Geschicks geschäftigem Ungemach
35	die jungen Pflanzen sorglich zu behüten,
36	die unter Lust und Wollust, Schmerz und Ach
37	aus Eurer Liebe keimten, sproßten, blühten ...
38	Und jetzt - in Nebel hüllt sich mir das Bild;
39	die langen Tage, die von Arbeit glühten,
40	verdämmern sanft; der Abend, köstlich mild,
41	zur Ruhe lädt, es schweigt der Sinne Drängen,
42	und jede heiße Sehnsucht scheint gestillt,
43	als ob in Eins Natur und Seele klängen.
44	Da schwebt zur Erde ein entfärbtes Blatt,
45	und halb schon sinkend auch die andern hängen:
46	der Herbst macht schüttelnd seine Lagerstatt.
47	Doch golden sehe ich den Herbst euch winken!
48	ob auch entlaubt die Aeste: freundlich matt
49	von ihnen her die reifen Früchte blinken,
50	und so wird Mühe Segen, That Genuß ...
51	Und einst: des Winters Flocken seh' ich sinken,
52	im Eise stockt des Lebens hurtiger Fluß,
53	die letzte Abendröte ist geschieden,
54	doch heilig rühret nun des Mondes Kuß,
55	und eine leise Sehnsucht nach dem Frieden
56	der Nacht ward schönstes, einziges Gefühl,
57	dann werden treue Hände ohn' Ermüden
58	voll Ehrfurcht betten euch das weichste Pfühl,
59	dann werdet ihr in treuen Augen finden
60	das heimatlich geborgenste Asyl,
61	dann werden zärtlich treue Lippen zünden
62	das wärmste Feuer euch am stillen Herd,
63	aus treuer Herzen dankerfüllten Gründen
64	wird all die Liebe, die ihr einst beschert,
65	in neuer Milde leuchtend, auferstehen:
66	so leuchtender, da Ihr sie einst gelehrt ...
67	Doch wohin irrt mein Blick! noch sind zu sehen
68	die Bäume ja im farbigsten Gewand!
69	in blauer Höh', auf lauem Winde wehen
70	die letzten Sommerfäden durch das Land,
71	wie Glücksgedanken weilen sie im Fluge
72	bald hier, bald dort an einer Blüte Rand
73	und schlingen, langhinflatternd, sich im Zuge
74	um Halm und Gräschen fest, um Busch und Baum,
75	und wie ich ihnen nach ins Weite luge,
76	da zeigt aufs Neue mir mein Führer Traum
77	ein schimmernd Wunder: vor mir seh' ich ragen,
78	umsponnen rings vom zarten Silberflaum,
79	von Einem starken Stamm emporgetragen,
80	zwei hohe Wipfel, deren voll Geäst
81	unlösbar ineinander ganz geschlagen.
82	Und wie ich staunend nähertrete, läßt
83	der Silberbaum auf mich herniederregnen
84	viel Zweiglein zierlich, Blättchen feingepreßt,
85	als wollt' er mich mit seiner Fülle segnen.
86	Ich schaue auf; da - ist das Bild entrückt,
87	von Duft und Licht ein wogendes Begegnen,
88	doch an mein Herz halt' ich den Kranz gedrückt!
89	Sein Glanz kann mit dem Traume nicht verbleichen,
90	denn Liebe hat und Hoffnung ihn gepflückt
91	von Eurem Lebensbaum, dem segensreichen.

Details zum Gedicht „Kranzgedicht zur silbernen Hochzeit der Eltern“

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Kranzgedicht zur silbernen Hochzeit der Eltern“ ist Richard Dehmel. Geboren wurde Dehmel im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg. Das Gedicht ist in der Zeit von 1879 bis 1920 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 91 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 623 Worte. Weitere Werke des Dichters Richard Dehmel sind „Bann“, „Bastard“ und „Bitte“. Zum Autor des Gedichtes „Kranzgedicht zur silbernen Hochzeit der Eltern“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

Weitere Gedichte des Autors Richard Dehmel (Infos zum Autor)

• An mein Volk
• Antwort
• Auf der Reise
• Aufblick
• Ballade vom Volk
• Bann
• Bastard
• Bitte
• Büßende Liebe
• Chinesisches Trinklied

Zum Autor Richard Dehmel sind auf abi-pur.de 522 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.