Der sterbende Mensch von Karl Kraus

Der Mensch
Nun ists genug. Es hat mich nicht gefreut,
Und Neues wird es auch wohl nicht mehr geben.
 
Das Gewissen
In einer Stunde endet sich dein Leben,
Und du hast nichts gesühnt und nichts bereut.
 
Der Mensch
Bereuen kann man nur, was man getan.
Ich habe nichts erfüllt und nichts versprochen.
 
10 
Die Erinnerung
11 
Ich war dein Zeitvertreib. So wurden Wochen
12 
Aus Jahren. Denkst du noch? Sieh mich nur an!
 
13 
Der Mensch
14 
Ich sah stets hinter mich, und du warst da.
15 
Warst du nicht da, so schloß ich gern die Augen.
 
16 
Die Welt
17 
Ich schien dir nicht in deine Welt zu taugen.
18 
Du sahst nur alles Ferne immer nah.
 
19 
Der Mensch
20 
Und alles Nahe fern. Bleib mir vom Geist!
21 
Stell dich nicht vor, ich stell’ dich besser vor.
 
22 
Der Geist
23 
Wenn sie dich plagt, was leihst du ihr dein Ohr?
24 
Von mir hast du, von ihr nicht, was du weißt!
 
25 
Der Mensch
26 
Was weiß ich, was ich weiß! Ich weiß es nicht.
27 
Ich glaube, zweifle, hoffe, fürchte, schwebe.
 
28 
Der Zweifel
29 
Du fällst nicht, Freund, wenn ich dich höher hebe.
30 
Verlaß dich auf mein ehrliches Gesicht.
 
31 
Der Mensch
32 
Ich kenne dich. Du hast durch manche Nacht
33 
Mir eingeheizt und manches Wort gespalten.
 
34 
Der Glaube
35 
Ich aber, glaub mir, hab’ es dir gehalten,
36 
Mit meinem Atem dir die Glut entfacht.
 
37 
Der Mensch
38 
Zu viel, ich hab’ die Seele mir verbrannt.
39 
Oft wars wie Hölle, oft wars wie der Blitz —
 
40 
Der Witz
41 
Da bin ich schon. Im Ernst, ich bin der Witz.
42 
Ich bins im Ernst, und doch als Spaß verkannt.
 
43 
Der Mensch
44 
Wer wäre, was er ist, wo Trug und Wesen
45 
Die Welt vertauscht in jämmerlicher Wahl!
 
46 
Der Hund
47 
Ich bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen.
 
48 
Der Bürger
49 
Ich bin der Herr und wähle liberal.
 
50 
Die Hure
51 
Ich, weil ich Weib bin, von der Welt verachtet.
 
52 
Der Bürger
53 
Weil ich kein Mann bin, von der Welt geehrt.
 
54 
Der Mensch
55 
Nach ihrer Ehre hab’ ich nicht geschmachtet.
56 
Und ihre Liebe hat mich nicht verzehrt.
 
57 
Gott
58 
Im Dunkel gehend, wußtest du ums Licht.
59 
Nun bist du da und siehst mir ins Gesicht.
60 
Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten.
61 
Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel.
62 
Du, unverloren an das Lebensspiel,
63 
Nun mußt, mein Mensch, du länger nicht mehr warten.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.4 KB)

Details zum Gedicht „Der sterbende Mensch“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
21
Anzahl Verse
63
Anzahl Wörter
379
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der sterbende Mensch“ wurde von Karl Kraus verfasst, einem österreichischen Schriftsteller und Journalisten, der von 1874 bis 1936 lebte. Kraus war bekannt für seine scharfe Kritik an der Gesellschaft und den Medien seiner Zeit.

Der erste Eindruck des Gedichts ist bedrückend und reflektiert. Das lyrische Ich spricht vom Ende des Lebens und reflektiert über die Vergangenheit und das, was bleibt. Es ist ein offener Dialog zwischen dem lyrischen Ich und verschiedenen abstrakten Konzepten, wie das Gewissen, Erinnerungen, Zweifel, Glaube und verschiedenen Rollen und Identitäten in der Gesellschaft.

Karl Kraus lässt in seinem Gedicht das lyrische Ich, den sterbenden Menschen, seinen andauernden Konflikt mit dem Tod, den inneren Erfahrungen und der Gesellschaft darstellen. Er scheint Unvollkommenheiten, Sorgen und Zweifel zu betonen. Die Aussage des Gedichts scheint zu sein, dass das Leben kompliziert, unvollkommen und oft konfliktreich ist. Aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, zeigt der Text die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen, der Welt und dem eigenen Geist.

Das Gedicht hat eine freie Versform mit unregelmäßigen Strophen und nicht durchgehendem Reim. Die Sprache ist deutlich und ungeschminkt mit eindrucksvollen Bildern und Metaphern, die die unterschiedlichen Gefühle, Einflüsse und Erfahrungen auf greifbare Weise darstellen. Sie ist teils ironisch, teils ernsthaft, was der Ernsthaftigkeit des Themas eine besondere Schärfe und Intensität verleiht.

Die letzte Strophe reflektiert die endgültige Konfrontation mit Gott und unterstreicht den Trost, der im Glauben gefunden werden kann. Es ist keine Frage der Religion, sondern eher eine betont philosophische Haltung zu den existenziellen Fragen des Lebens.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Karl Kraus in seinem Gedicht „Der sterbende Mensch“ die menschliche Existenz in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Schwierigkeit darstellt und gleichzeitig die Möglichkeit von Trost und Verständnis aufzeigt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der sterbende Mensch“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Kraus. Geboren wurde Kraus im Jahr 1874 in Jičín (WP), Böhmen. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1920 zurück. In München ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zugeordnet werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 379 Wörter. Es baut sich aus 21 Strophen auf und besteht aus 63 Versen. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „An eine Falte“, „An einen alten Lehrer“ und „Auferstehung“. Zum Autor des Gedichtes „Der sterbende Mensch“ haben wir auf abi-pur.de weitere 61 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Karl Kraus (Infos zum Autor)

Zum Autor Karl Kraus sind auf abi-pur.de 61 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.