An das Herz von Gottfried Keller

Willst du nicht dich schließen,
Herz, du offnes Haus!
Worin Freund' und Feinde
gehen ein und aus?
 
Schau wie sie verletzen
dir das Hausrecht stets!
Fühllos auf und nieder,
polternd, lärmend geht's.
 
Keiner putzt die Schuhe,
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keiner sieht sich um,
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staubig brechen alle
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dir ins Heiligtum;
 
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trinken aus den goldnen
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Kelchen des Altars,
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schänden Müh und Segen
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dir des ganzen Jahrs;
 
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werfen die Penaten
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wild vom Herde dir,
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pflanzen drauf mit Prahlen
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ihr entfärbt Panier.
 
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Und wenn zu verwüsten
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nichts sie finden mehr,
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lassen sie im Scheiden
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dich, mein Herz, so leer!
 
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Nein! und wenn nun alles
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still und tot in dir,
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oh, noch halt' dich offen,
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offen für und für!
 
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Laß die Sonne scheinen
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heiß in dich herein,
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Stürme dich durchfahren
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und den Wetterschein!
 
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Wenn durch deine Kammern
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so die Windsbraut zieht,
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laß dein Glöcklein stürmen,
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schallen Lied um Lied!
 
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Denn noch kann's geschehen,
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daß auf irrer Flucht
39 
eine treue Seele
40 
bei dir Obdach sucht!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „An das Herz“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
156
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „An das Herz“ wurde von Gottfried Keller, einem Schweizer Dichter und Schriftsteller des Realismus, geschrieben. Keller lebte von 1819 bis 1890, daher lässt sich das Werk im Kontext des 19. Jahrhunderts verorten.

Ein erster Eindruck des Gedichts verrät eine melancholische und fast kritische Haltung gegenüber der Offenheit und Empfindsamkeit des Herzens. Das lyrische Ich spricht das Herz direkt an und mahnt es, sich vor schädlichen Einflüssen zu hüten, die es ausbeuten und leer zurücklassen.

Im Inhalt geht es um die Empfindsamkeit und Offenheit des Herzens. Das Herz wird als ein offenes Haus beschrieben, in dem Freunde und Feinde gleichermaßen ein- und ausgehen. Diese Besucher missbrauchen das Herz, verursachen Lärm und Chaos, respektieren es nicht und hinterlassen es schließlich leer und verwüstet. Trotz all dieser Verletzungen ermutigt das lyrische Ich das Herz, offen und empfänglich zu bleiben, in der Hoffnung, dass vielleicht eine treue Seele darin Schutz suchen könnte.

Die Form des Gedichts besteht aus zehn vierzeiligen Strophen, die inhaltlich eine Entwicklung durchlaufen von der schmerzlichen Beschreibung der Missachtung des Herzens bis zur ermutigenden Botschaft der Hoffnung am Ende. Die Sprache ist bildhaft und emotional, voller Metaphern, die das Herz mit einem Haus vergleichen und die Besucher als rücksichtslose Eindringlinge darstellen. Es finden sich viele Anklänge an sakrale Sprache und Symbolik, wie beispielsweise der Gebrauch des Wortes 'Altar' oder 'Heiligtum', sowie die Bezugnahme auf die 'Penaten', römische Schutzgötter des Haushalts, was die tiefe Emotionalität und die ernste, fast heilige Bedeutung des Herzens unterstreicht.

Die Botschaft des Gedichts ist einerseits eine Kritik an der mangelnden Achtung, die dem emotionalen Innenleben eines Menschen oft entgegengebracht wird, und andererseits eine Ermutigung, trotz aller Verletzungen offen und empfänglich zu bleiben für die Möglichkeit wahrer Verbundenheit und Liebe.

Weitere Informationen

Gottfried Keller ist der Autor des Gedichtes „An das Herz“. 1819 wurde Keller in Zürich geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1835 und 1890. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Keller ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 156 Worte. Die Gedichte „Land im Herbste“, „Herbstnacht“ und „Herbstlied“ sind weitere Werke des Autors Gottfried Keller. Zum Autor des Gedichtes „An das Herz“ haben wir auf abi-pur.de weitere 48 Gedichte veröffentlicht.

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