Herbstlied von Gottfried Keller

Lasst uns auf alle Berge gehen,
Wo jetzt der Wein zu Tale fliesst,
Und überall am nächsten stehen,
Wo sich der Freude Quell ergiesst,
Uns tief in allen Augen spiegeln,
Die durch das Rebenland erglühn!
Lasst uns das letzte Lied entriegeln,
Wo noch zwei rote Lippen blühn!
 
Seht, wie des Mondes Antlitz glühend
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Im Rosenscheine aufersteht,
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Indes die Sonne, freudesprühend,
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Den Leib im Westmeer baden geht!
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Wie auf der Jungfrau'n einer Wange
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Der Widerschein des Mondes ruht,
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Dieweil erhöht vom Niedergange,
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Erglänzt der andern Purpurblut.
 
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O küsset schnell die Himmelszeichen,
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Eh' sich verdunkelt die Natur!
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Mag dann der Abglanz auch erbleichen,
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Im Herzen loht die schönre Spur!
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Mag sich, wer zu dem süssen Leben
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Der Lieb' im Lenz das Wort nicht fand,
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Der holden Torheit nun ergeben,
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Den Brausebecher in der Hand!
 
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Wohl wird man edler durch das Leiden,
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Und strenger durch erlebte Qual;
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Doch hoch erglühn in guten Freuden,
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Das adelt Seel' und Leib zumal.
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Und liebt der Himmel seine Kinder,
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Wo Tränen er durch Leid erpresst,
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So liebt er jene drum nicht minder,
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Die er vor Freude weinen lässt.
 
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Und sehnen blasse Gramgenossen
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Sich nach dem Grab in ihrer Not,
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Wem hell des Lebens Born geflossen,
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Der scheut noch weniger den Tod!
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Taucht euch ins Bad der Lust, ins klare,
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Das euch die kurze Stunde gönnt,
39 
Dass auch für alles heilig Wahre
40 
Ihr jede Stunde sterben könnt!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Herbstlied“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
229
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Gottfried Keller, ein bekannter Dichter und Schriftsteller, der in der Schweiz im 19. Jahrhundert lebte. Somit lässt sich das Gedicht in die Epoche des Realismus einordnen.

Auf den ersten Blick vermittelt das Gedicht „Herbstlied“ eine lebendige, kraftvolle und sinnliche Atmosphäre. Es scheint, als würde der poetische Text die Schönheit der Natur und die menschliche Erfahrung von Freude, Leid und Vergänglichkeit feiern.

Inhaltlich geht es in diesem Gedicht um den Hochgenuss des Lebens in all seinen Facetten - Freuden und Leiden - und um die Anerkennung der Vergänglichkeit des Lebens. Das lyrische Ich fordert den Leser auf, die Schönheit der Welt voll auszukosten, und dabei doch den Wechsel der Zeiten und das unausweichliche Ende zu bedenken. Es besteht darauf, dass die Erfahrungen des Leidens sowie der Freude die Menschlichkeit adeln und uns bereit machen, das unausweiche Ende zu akzeptieren.

In der Form entspricht das Gedicht dem traditionellen Schema eines Liedgedichts, das in mehreren Strophen mit jeweils acht Versen strukturiert ist. In den Versen werden oft lebendige, farbenfrohe Bilder verwendet, um das Gefühl der Freude und des Leidens zu betonen.

Die Sprache des Gedichts ist reich an Metapher und bildhafter Rhetorik. Beispielsweise werden die erfreulichen oder leidvollen Ereignisse des Lebens oft durch die lebendigen Beschreibungen von Naturereignissen dargestellt - die Strömung des Weins, die Glut des Sonnenuntergangs, die Schönheit des Mondes. Diese konkreten Bilder tragen dazu bei, die emotionalen Innenschau des lyrischen Ichs und seine philosophische Sicht auf das Leben zu verdeutlichen.

Man könnte argumentieren, dass der Dichter mit diesem Gedicht eine lebensbejahende Einstellung zum Ausdruck bringt und dazu aufruft, das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen vollständig anzunehmen.

Weitere Informationen

Gottfried Keller ist der Autor des Gedichtes „Herbstlied“. Der Autor Gottfried Keller wurde 1819 in Zürich geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1835 bis 1890 entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Bei Keller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 229 Worte. Gottfried Keller ist auch der Autor für Gedichte wie „Land im Herbste“, „Herbstnacht“ und „Die Zeit geht nicht“. Zum Autor des Gedichtes „Herbstlied“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 48 Gedichte vor.

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