Der Kirchenbesuch von Gottfried Keller

Wie ein Fischlein in dem Garn
Hat der Dom mich eingefangen,
Und da bin ich festgebannt,
Warum bin ich dreingegangen?
Ach, wie unter breiten Malven
Taubesprengt ein Röslein blitzt,
Zwischen guten Bürgersfrauen
Hier mein feines Liebchen sitzt!
 
Die Gemeinde schnarcht so sanft,
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Wie das Laub im Walde rauschet,
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Und der Bettler an der Tür
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Als ein Räuber guckt und lauschet;
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Doch wie eines Bächleins Faden
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Murmelnd durchs Gebüsche fließt,
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So die lange dünne Predigt
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Um die Pfeiler sich ergießt.
 
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Eichenbäume, hoch und schlank,
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All die gotischen Pfeiler ragen;
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Ein gewölbtes Blätterdach
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Ihre krausen Äste tragen;
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Untenher spielt hin und wieder
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Dämmerhaft ein Sonnenschein;
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Wachend sind in dieser Stille
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Nur mein Lieb und ich allein.
 
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Zwischen uns webt sich ein Netz
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Von des Lichts gebrochnem Strahle,
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Drin der Taufstein, grün und rot,
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Wandelt sich zur Blumenschale;
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Ein geflügelt Knäblein flattert
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Auf des Deckels altem Knauf,
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Und es gehen uns im Busen
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Auch der Sehnsucht Rosen auf.
 
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Weit hinaus, ins Morgenland,
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Komm, mein Kind, und laß uns fliegen,
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Wo die Palmen schwanken am Meer
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Und die sel'gen Inseln liegen,
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Flutend um die große Sonne,
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Grundlos tief die Himmel blaun:
39 
Angesichts der freien Wogen
40 
Unsre Seelen frei zu traun!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Der Kirchenbesuch“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
196
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Kirchenbesuch“ wurde von Gottfried Keller verfasst, einem deutschsprachigen Schweizer Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts (1819-1890). Das Gedicht lässt sich somit dem Realismus zuordnen.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht einen Besuch des lyrischen Ichs in einer Kirche zu beschreiben, aber es scheint mehr dahinter zu stecken: Eine Verbindung zu einer geliebten Person wird angedeutet. Dabei werden die religiöse Umgebung und sakrale Symbole einbezogen.

Inhaltlich schildert das Gedicht, wie das lyrische Ich sich von der imposanten Architektur des Gotteshauses, speziell dem Dom, gefangen fühlt. Währenddessen richtet es seine Aufmerksamkeit auf sein „Liebchen“, das es dort entdeckt hat. In der Stille und Einsamkeit der Kirche fühlt sich das lyrische Ich nur mit seinem „Liebchen“ präsent und wach. Das Lichtspiel in der Kirche erweckt auf romantische Art und Weise Sehnsüchte. Im letzten Abschnitt wünscht das lyrische Ich, weit weg mit seinem Liebchen zu fliegen, um in einer idealisierten, exotischen Umgebung ihre Seelen auf frei zu entfalten.

Die Form des Gedichts unterteilt sich in fünf Strophen, bestehend aus jeweils acht Versen. Die Verse sind jambisch und folgen einem durchgängigen Reimschema (Kreuzreim). Die regelmäßige formale Gestaltung verleiht dem Gedicht eine harmonische, ruhige Wirkung und trägt zur erzählerischen Atmosphäre bei.

Die Sprache des Gedichts ist malerisch und detailreich, mit starken visuellen und sensorischen Beschreibungen, die einen lebhaften Eindruck von der Umgebung und dem inneren Zustand des lyrischen Ichs vermittelt. Es beinhaltet eine reiche Symbolik, in der Objekte und Landschaften mit Emotionen und Zuständen des Geistes verbunden werden. Die Kirche wird etwa als konkreter Ort, gleichzeitig aber auch als emotionaler Zustand wahrgenommen.

Alles in allem handelt es sich beim „Der Kirchenbesuch“ um ein lyrisches Gedicht, dass durch seine Kombination von sinnlichen Beschreibungen und emotionaler Tiefe das Erlebnis eines Kirchenbesuchs in eine meditative und romantische Reflexion über Liebe und Sehnsucht verwandelt.

Weitere Informationen

Gottfried Keller ist der Autor des Gedichtes „Der Kirchenbesuch“. 1819 wurde Keller in Zürich geboren. In der Zeit von 1835 bis 1890 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Bei Keller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 196 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 40 Versen. Gottfried Keller ist auch der Autor für Gedichte wie „Abendregen“, „Abendlied“ und „In der Trauer“. Zum Autor des Gedichtes „Der Kirchenbesuch“ haben wir auf abi-pur.de weitere 48 Gedichte veröffentlicht.

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