Lethe von Conrad Ferdinand Meyer

Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten
einen Nachen ohne Ruder ziehn,
Strom und Himmel stand in matten Gluten
wie bei Tages Nahen und Fliehn.
 
Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord sich schlank,
kreisend durch die Reihe sah ich glänzen
eine Schale, draus ein jedes trank.
 
Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmut,
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das die Schar der Kranzgenossen sang —
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ich erkannte deines Nackens Demut,
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deine Stimme, die den Chor durchdrang.
 
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In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke
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schaudert' ich, wie seltsam kühl sie war.
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Ich erreicht' die leise zieh'nde Barke,
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drängte mich in die geweihte Schar.
 
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Und die Reihe war an dir, zu trinken;
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und die volle Schale hobest du,
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sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:
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„Herz, ich trinke dir Vergessen zu!"
 
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Dir entriß in trotz'gem Liebesdrange
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ich die Schale, warf sie in die Flut;
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sie versank, und siehe, deine Wange
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färbte sich mit einem Schein von Blut.
 
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Flehend küßt' ich dich in wildem Harme,
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die den bleichen Mund mir willig bot.
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da zerrannst du lächelnd mir im Arme,
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und ich wußt' es wieder — du bist tot.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25 KB)

Details zum Gedicht „Lethe“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
185
Entstehungsjahr
1825 - 1898
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Lethe“ wurde von Conrad Ferdinand Meyer verfasst, einem Schweizer Dichter des 19. Jahrhunderts, der zur Epoche des Realismus zählt.

Das lyrische Ich berichtet von einem Traum, in dem es eine Barke mit jungen Leuten auf einem Fluss sieht. Alle trinken aus einer Schale, auch eine geliebte Person, die das lyrische Ich erkennt. Sie trinkt aus der Schale ihm zu „Vergessen”. Das lyrische Ich kappt die Reihe des Trinkens und wirft die Schale weg, woraufhin die Geliebte, die anscheinend tot ist, verschwindet.

In Betrachtung des Inhalts kann man deuten, dass die Schale und das Trinken daraus symbolisch für das Vergessen steht, genauer gesagt das Vergessen von Verstorbenen. Der Fluss könnte der Fluss Lethe sein, ein Fluss in der griechischen Mythologie, aus dem die Seelen der Verstorbenen trinken, um sich nicht mehr an ihr vorheriges Leben zu erinnern. Die Geliebte scheint verstorben, und es ist ihr Wunsch, dass das lyrische Ich sie vergisst. Das lyrische Ich will sie jedoch nicht vergessen und wirft deshalb die Schale ins Wasser.

Hinsichtlich der Form lässt sich feststellen, dass das Gedicht aus sieben gleich strukturierten Vierzeilern besteht, gekennzeichnet durch einen gleichmäßigen Rhythmus und eine leichte Sprache mit romantischen und traurigen Nuancen, was den sentimentalen Ton verstärkt. Meist ist der Endreim ein umarmender Reim, wobei es Ausnahmen gibt, was auf den emotionalen Aufruhr des lyrischen Ichs hindeuten könnte.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass „Lethe“ eine melancholische Auseinandersetzung mit dem Tod und der Vergänglichkeit darstellt, sowie eine Aussage über die Unmöglichkeit, geliebte Tote wirklich zu vergessen, trotz der damit verbundenen emotionale Belastung.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Lethe“ ist Conrad Ferdinand Meyer. Geboren wurde Meyer im Jahr 1825 in Zürich. Das Gedicht ist in der Zeit von 1841 bis 1898 entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Meyer ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 185 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 28 Versen. Conrad Ferdinand Meyer ist auch der Autor für Gedichte wie „Unruhige Nacht“, „Nicola Pesces“ und „Möwenflug“. Zum Autor des Gedichtes „Lethe“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 80 Gedichte vor.

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