Tannenbaum, mit grünen Fingern von Heinrich Heine

Tannenbaum, mit grünen Fingern,
Pocht ans niedre Fensterlein,
Und der Mond, der stille Lauscher,
Wirft sein goldnes Licht herein.
 
Vater, Mutter schnarchen leise
In dem nahen Schlafgemach;
Doch wir beide, selig schwatzend,
Halten uns einander wach.
 
»Daß du gar zu oft gebetet,
10 
Das zu glauben wird mir schwer,
11 
Jenes Zucken deiner Lippen
12 
Kommt wohl nicht vom Beten her.
 
13 
Jenes böse, kalte Zucken,
14 
Das erschreckt mich jedesmal,
15 
Doch die dunkle Angst beschwichtigt
16 
Deiner Augen frommer Strahl.
 
17 
Auch bezweifl' ich, daß du glaubest,
18 
Was so rechter Glauben heißt
19 
Glaubst wohl nicht an Gott den Vater,
20 
An den Sohn und Heil'gen Geist?«
 
21 
»Ach, mein Kindchen, schon als Knabe,
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Als ich saß auf Mutters Schoß,
23 
Glaubte ich an Gott den Vater,
24 
Der da waltet gut und groß;
 
25 
Der die schöne Erd' erschaffen,
26 
Und die schönen Menschen drauf,
27 
Der den Sonnen, Monden,
28 
Sternen Vorgezeichnet ihren Lauf.
 
29 
Als ich größer wurde, Kindchen,
30 
Noch viel mehr begriff ich schon,
31 
Ich begriff, und ward vernünftig,
32 
Und ich glaub auch an den Sohn;
 
33 
An den lieben Sohn, der liebend
34 
Uns die Liebe offenbart,
35 
Und zum Lohne, wie gebräuchlich,
36 
Von dem Volk gekreuzigt ward.
 
37 
Jetzo, da ich ausgewachsen,
38 
Viel gelesen, viel gereist,
39 
Schwillt mein Herz, und ganz von
40 
Herzen Glaub ich an den Heil'gen Geist.
 
41 
Dieser tat die größten Wunder,
42 
Und viel größre tut er noch;
43 
Er zerbrach die Zwingherrnburgen,
44 
Und zerbrach des Knechtes Joch.
 
45 
Alte Todeswunden heilt er,
46 
Und erneut das alte Recht:
47 
Alle Menschen, gleichgeboren,
48 
Sind ein adliges Geschlecht.
 
49 
Er verscheucht die bösen Nebel
50 
Und das dunkle Hirngespinst,
51 
Das uns Lieb' und Lust verleidet,
52 
Tag und Nacht uns angegrinst.
 
53 
Tausend Ritter, wohlgewappnet,
54 
Hat der Heil'ge Geist erwählt,
55 
Seinen Willen zu erfüllen,
56 
Und er hat sie mutbeseelt.
 
57 
Ihre teuern Schwerter blitzen,
58 
Ihre guten Banner wehn!
59 
Ei, du möchtest wohl, mein Kindchen,
60 
Solche stolze Ritter sehn?
 
61 
Nun, so schau mich an, mein Kindchen,
62 
Küsse mich und schaue dreist;
63 
Denn ich selber bin ein solcher
64 
Ritter von dem Heil'gen Geist.«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Tannenbaum, mit grünen Fingern“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
319
Entstehungsjahr
1797 - 1856
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Tannenbaum, mit grünen Fingern“ wurde von Heinrich Heine verfasst, einem wichtigen Dichter der deutschen Romantik, der von 1797 bis 1856 lebte. Die Epoche der Romantik entstand um 1800 und kann bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts verortet werden, somit zeitlich passend zum Leben Heines.

Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass das Gedicht eine intime, nächtliche Szenerie beschreibt, in der das lyrische Ich mit einem Kind ein ehrliches, tiefgründiges Gespräch führt. Die Atmosphäre ist behaglich und geheimnisvoll zugleich.

Das lyrische Ich und das Kind sind wach und unterhalten sich, während der Rest der Familie schläft. Als das Kind eine skeptische Haltung gegenüber der Aufrichtigkeit und Gläubigkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, bietet dieses eine detaillierte Rechtfertigung seines Glaubensverständnisses. Es beschreibt, wie sein Glaube im Laufe seines Lebens gewachsen und gereift ist, von der kindlichen Akzeptanz der göttlichen Macht, zur Anerkennung der Rolle Jesu Christi, hin zur tieferen Wertschätzung der transzendenten Macht des Heiligen Geistes. Das lyrische Ich betont, dass der Heilige Geist die größten Wunder vollbringt, das Joch der Sklaverei bricht und alle Menschen gleich gestaltet. Es stellt sich schließlich als Ritter des Heiligen Geistes vor.

Die Form des Gedichts zeigt rhythmische Regelmäßigkeit und strenges Reimschema, charakteristisch für das lyrische Schaffen Heines. Die Sprache ist einfach und direkt, was eine eindringliche, lebendige Darstellung der Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs ermöglicht. Gleichwohl sind tiefergehende biblische und soziale Bezüge eingewoben, die eine Mehrdeutigkeit und inhaltliche Komplexität implizieren.

Abschließend ist „Tannenbaum, mit grünen Fingern“ ein lebendiges, tiefgreifendes Gedicht, das Elemente der Romantik mit einem persönlichen, emotionalen Dialog verbindet. Das Thema Glaube und dessen Entwicklung im Lebenslauf sind zentral thematisiert, ebenso das Bestreben, die Welt gerechter und fairer zu gestalten.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Tannenbaum, mit grünen Fingern“ des Autors Heinrich Heine. 1797 wurde Heine in Düsseldorf geboren. Im Zeitraum zwischen 1813 und 1856 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Heine ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 319 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 64 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Heinrich Heine ist auch der Autor für Gedichte wie „Allnächtlich im Traume seh’ ich dich“, „Almansor“ und „Als ich, auf der Reise, zufällig“. Zum Autor des Gedichtes „Tannenbaum, mit grünen Fingern“ haben wir auf abi-pur.de weitere 535 Gedichte veröffentlicht.

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