Der Philanthrop von Heinrich Heine

Das waren zwei liebe Geschwister,
Die Schwester war arm, der Bruder war reich.
Zum Reichen sprach die Arme:
»Gib mir ein Stückchen Brot.«
 
Zur Armen sprach der Reiche:
»Laß mich nur heut in Ruh'.
Heut geb ich mein jährliches Gastmahl
Den Herren vom großen Rat.
 
Der eine liebt Schildkrötensuppe,
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Der andre Ananas,
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Der dritte ißt gern Fasanen
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Mit Trüffeln von Périgord.
 
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Der vierte speist nur Seefisch,
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Der fünfte verzehrt auch Lachs,
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Der sechste, der frißt alles,
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Und trinkt noch mehr dazu.«
 
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Die arme, arme Schwester
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Ging hungrig wieder nach Haus;
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Sie warf sich auf den Strohsack
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Und seufzte tief und starb.
 
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Wir müssen alle sterben!
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Des Todes Sense trifft
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Am End' den reichen Bruder,
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Wie er die Schwester traf.
 
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Und als der reiche Bruder
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Sein Stündlein kommen sah,
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Da schickt' er zum Notare
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Und macht' sein Testament.
 
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Beträchtliche Legate
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Bekam die Geistlichkeit,
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Die Schulanstalten, das große
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Museum für Zoologie.
 
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Mit edlen Summen bedachte
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Der große Testator zumal
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Die Judenbekehrungsgesellschaft
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Und das Taubstummeninstitut.
 
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Er schenkte eine Glocke
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Dem neuen Sankt-Stephans-Turm;
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Die wiegt fünfhundert Zentner
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Und ist vom besten Metall.
 
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Das ist eine große Glocke
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Und läutet spat und früh;
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Sie läutet zum Lob und Ruhme
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Des unvergeßlichen Manns.
 
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Sie meldet mit eherner Zunge,
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Wieviel er Gutes getan
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Der Stadt und seinen Mitbürgern
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Von jeglicher Konfession.
 
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Du großer Wohltäter der Menschheit!
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Wie im Leben, soll auch im Tod
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Jedwede deiner Wohltaten
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Verkünden die große Glock'!
 
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Das Leichenbegängnis wurde
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Gefeiert mit Prunk und Pracht;
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Es strömte herbei die Menge
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Und staunte ehrfurchtsvoll.
 
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Auf einem schwarzen Wagen,
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Der gleich einem Baldachin
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Mit schwarzen Straußfederbüscheln
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Gezieret, ruhte der Sarg.
 
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Der strotzte von Silberblechen
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Und Silberstickerei'n;
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Es machte auf schwarzem Grunde
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Das Silber den schönsten Effekt.
 
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Den Wagen zogen sechs Rosse,
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In schwarzen Decken vermummt;
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Die fielen gleich Trauermänteln
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Bis zu den Hufen hinab.
 
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Dicht hinter dem Sarge gingen
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Bediente in schwarzer Livree,
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Schneeweiße Schnupftücher haltend
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Vor dem kummerroten Gesicht.
 
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Sämtliche Honoratioren
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Der Stadt, ein langer Zug
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Von schwarzen Paradekutschen,
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Wackelte hintennach.
 
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In diesem Leichenzuge,
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Versteht sich, befanden sich auch
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Die Herren vom hohen Rate,
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Doch waren sie nicht komplett.
 
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Es fehlte jener, der gerne
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Fasanen mit Trüffeln aß;
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War kurz vorher gestorben
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An einer Indigestion.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.4 KB)

Details zum Gedicht „Der Philanthrop“

Anzahl Strophen
21
Anzahl Verse
84
Anzahl Wörter
360
Entstehungsjahr
1797 - 1856
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Philanthrop“ wurde verfasst von Heinrich Heine, einem der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Es ist ein kritisches Gedicht, dass Heines feinsinnige Beobachtungen über die sozialen Ungerechtigkeiten seiner Zeit wiedergibt und aufzeigt, wie oberflächlich und scheinheilig die Wohltätigkeit von reichen Bürgern oft ist.

In dem Gedicht werden zwei Geschwister dargestellt: Die Schwester ist arm und der Bruder ist reich. Die Schwester bittet ihren Bruder um Brot, wird aber abgewiesen, weil ihr reicher Bruder ein Festmahl für den Stadtrat gibt. Sie stirbt schließlich vor Hunger, während der reiche Bruder überlebt. Ironischerweise hinterlässt der reiche Bruder der Kirche und nicht seiner armen Schwester sein Vermögen. Am Ende wird er als großer Wohltäter der Stadt gefeiert.

Mit seinem Gedicht kritisiert Heinrich Heine den reichen Bruder, der nur in der Öffentlichkeit großzügig ist, seine Schwester jedoch hungern lässt. Diese Kritik reicht aber weit über die individuelle Ebene hinaus. Das lyrische Ich charakterisiert den reichen Bruder als einen Philanthropen und nutzt dessen Verhalten als Symbol für eine fehlgeleitete Wohltätigkeitskultur.

Die Form des Gedichtes ist durch seine klare und einfache Sprache geprägt. Es besteht aus 21 Strophen mit jeweils vier Versen. Trotz der einfachen Wortwahl greift Heine in seinem Gedicht jedoch tiefgreifende soziale Probleme auf. Dabei versteht er es hervorragend, den Kontrast zwischen der realen Not der armen Schwester und der scheinheiligen Großzügigkeit des reichen Bruders zu zeichnen. Der ironische, fast schon spöttische Ton macht das Gedicht nicht nur lesenswert, sondern verleiht der darin geäußerten Kritik zusätzliches Gewicht.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der Philanthrop“ ist Heinrich Heine. Der Autor Heinrich Heine wurde 1797 in Düsseldorf geboren. In der Zeit von 1813 bis 1856 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zugeordnet werden. Heine ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 360 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 84 Versen mit insgesamt 21 Strophen. Der Dichter Heinrich Heine ist auch der Autor für Gedichte wie „Allnächtlich im Traume seh’ ich dich“, „Almansor“ und „Als ich, auf der Reise, zufällig“. Zum Autor des Gedichtes „Der Philanthrop“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 535 Gedichte vor.

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