Der Heidemann von Annette von Droste-Hülshoff

»Geht, Kinder, nicht zu weit ins Bruch,
Die Sonne sinkt, schon surrt den Flug
Die Biene matter, schlafgehemmt,
Am Grunde schwimmt ein blasses Tuch,
Der Heidemann kömmt!«
 
Die Knaben spielen fort am Raine,
Sie rupfen Gräser, schnellen Steine,
Sie plätschern in des Teiches Rinne,
Erhaschen die Phalän' am Ried,
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Und freun sich, wenn die Wasserspinne
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Langbeinig in die Binsen flieht.
 
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»Ihr Kinder, legt euch nicht ins Gras,
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Seht, wo noch grad' die Biene saß,
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Wie weißer Rauch die Glocken füllt.
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Scheu aus dem Busche glotzt der Has,
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Der Heidemann schwillt!«
 
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Kaum hebt ihr schweres Haupt die Schmele
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Noch aus dem Dunst, in seine Höhle
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Schiebt sich der Käfer und am Halme
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Die träge Motte höher kreucht,
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Sich flüchtend vor dem feuchten Qualme,
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Der unter ihre Flügel steigt.
 
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»Ihr Kinder, haltet euch bei Haus,
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Lauft ja nicht in das Bruch hinaus;
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Seht, wie bereits der Dorn ergraut,
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Die Drossel ächzt zum Nest hinaus,
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Der Heidemann braut!«
 
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Man sieht des Hirten Pfeife glimmen,
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Und vor ihm her die Herde schwimmen,
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Wie Proteus seine Robbenscharen
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Heimschwemmt im grauen Ozean.
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Am Dach die Schwalben zwitschernd fahren
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Und melancholisch kräht der Hahn.
 
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»Ihr Kinder, bleibt am Hofe dicht,
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Seht, wie die feuchte Nebelschicht
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Schon an des Pförtchens Klinke reicht;
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Am Grunde schwimmt ein falsches Licht,
38 
Der Heidemann steigt!«
 
39 
Nun strecken nur der Föhren Wipfel
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Noch aus dem Dunste grüne Gipfel,
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Wie übern Schnee Wacholderbüsche;
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Ein leises Brodeln quillt im Moor,
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Ein schwaches Schrillen, ein Gezische
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Dringt aus der Niederung hervor.
 
45 
»Ihr Kinder, kommt, kommt schnell herein,
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Das Irrlicht zündet seinen Schein,
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Die Kröte schwillt, die Schlang' im Ried;
48 
Jetzt ist's unheimlich draußen sein,
49 
Der Heidemann zieht!«
 
50 
Nun sinkt die letzte Nadel, rauchend
51 
Zergeht die Fichte, langsam tauchend
52 
Steigt Nebelschemen aus dem Moore,
53 
Mit Hünenschritten gleitet's fort;
54 
Ein irres Leuchten zuckt im Rohre,
55 
Der Krötenchor beginnt am Bord.
 
56 
Und plötzlich scheint ein schwaches Glühen
57 
Des Hünen Glieder zu durchziehen;
58 
Es siedet auf, es färbt die Wellen,
59 
Der Nord, der Nord entzündet sich
60 
Glutpfeile, Feuerspeere schnellen,
61 
Der Horizont ein Lavastrich!
 
62 
»Gott gnad' uns! wie es zuckt und dräut,
63 
Wie's schwelet an der Dünenscheid'!
64 
Ihr Kinder, faltet eure Händ',
65 
Das bringt uns Pest und teure Zeit
66 
Der Heidemann brennt!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.4 KB)

Details zum Gedicht „Der Heidemann“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
66
Anzahl Wörter
361
Entstehungsjahr
1797 - 1848
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Heidemann“ wurde von Annette von Droste-Hülshoff verfasst, einer bedeutenden deutschen Dichterin der Romantik, die von 1797 bis 1848 lebte. Das Werk ist also etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln.

Bereits beim ersten Lesen wird die unheimliche und gespenstische Atmosphäre des Gedichts deutlich. Es geht um die wiederkehrenden Warnungen vor einer Figur namens „Heidemann“, die mit zunehmend düster werdender Natur erscheinen soll.

Im Inhalt des Gedichts werden in wiederkehrenden Aufforderungen Kinder vor dem geheimnisvollen „Heidemann“ gewarnt und immer wieder dazu aufgerufen, nicht zu weit hinaus ins Bruch zu gehen und letztlich in sicherem Umfeld zu bleiben. Die Art und Weise, wie diese Warnungen ausgedrückt werden, wird mit fortschreitendem Gedicht immer eindringlicher und unheimlicher, bis die anfängliche Dämmerung in Finsternis übergeht und der Heidemann erscheint.

In Bezug auf die Form des Gedichts ist auffällig, dass es in Strophen mit abwechselnd fünf und sechs Versen gegliedert ist. Jede Strophe endet mit einer direkten oder indirekten Erwähnung des Heidemanns, was eine steigende Spannung und ein wachsendes Unbehagen erzeugt.

Die Dichterin nutzt die Sprache geschickt, um das Unheimliche und die warnende Atmosphäre zu verstärken. Sie verwendet bildhafte Beschreibungen der Natur und der Tiere, die den Fortgang der Zeit und das Herannahen des Abends symbolisieren. Es wird eine Szenerie gemalt, in der die Plantschen der Kinder im Teich und das Zirpen der Grashüpfer dem Schwirren der Biene und dem Surren des Heidemanns weichen.

Ein wichtiger Aspekt ist auch der Heidemann selbst - nicht klar definiert und greifbar, jedoch präsent und beängstigend. Die Figur könnte als Symbol interpretiert werden - vielleicht für die nächtlichen Gefahren in der Natur, die Furcht vor dem Unbekannten oder für die Erwachsenenwelt, vor der die Kinder bewahrt werden sollen.

Zusammenfassend ist „Der Heidemann“ ein eindrucksvolles Gedicht, das durch seine düstere Atmosphäre, seine unheimlichen Bilder und seine eindringlichen Warnungen fesselt. Es ist ein Meisterwerk der Romantik und ein schönes Beispiel für die gedankliche Tiefe und die bildreiche Sprache von Annette von Droste-Hülshoff.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Heidemann“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Annette von Droste-Hülshoff. Im Jahr 1797 wurde Droste-Hülshoff geboren. Zwischen den Jahren 1813 und 1848 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Biedermeier kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin vorgenommen werden. Droste-Hülshoff ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 361 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 66 Versen. Die Gedichte „An meine Mutter“, „Am Letzten Tag des Jahres - Silvester“ und „Am Fronleichnamstage“ sind weitere Werke der Autorin Annette von Droste-Hülshoff. Zur Autorin des Gedichtes „Der Heidemann“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 123 Gedichte vor.

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