Klein wild Waltraut von Wilhelm Hertz
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Das Mondlicht ist versunken kaum, |
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Herr Odin sitzt am Galgenbaum, |
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Die Todten reden leise. |
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„Ihr drei Gesellen über mir, |
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Nun saget an, was raunet ihr?“ |
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Die Todten reden leise. |
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„„Wir harren auf klein wild Waltraut, |
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Die Zeit wird lang, es säumt die Braut.““ |
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Die Todten reden leise. |
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„Du schwarzer Krauskopf, sag’ mir an: |
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Was hat wild Waltraut dir gethan?“ |
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Die Todten reden leise. |
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„„Klein Waltraut ist ein Grafenkind, |
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Ihr Sinn so wild und leicht wie Wind. |
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Ich war ein Ritter wohlbekannt, |
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Nach ihrem Leib in Lieb’ entbrannt. |
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Sie war in einer Nacht mir hold, |
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Mein goldner Hüftdolch war ihr Sold. |
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Doch bei des Morgens früh’stem Grau’n, |
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Da ließ sie diesen Galgen bau’n; |
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Und als die Sonn’ vom Berge schien, |
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Da gab sie mich dem Henker hin, |
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Und lachte: Der lebt nicht am Tag, |
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Der Nachts bei klein wild Waltraut lag!““ |
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Die Todten reden leise. |
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„Und du mit Haaren braun und schlicht, |
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Was brachte dich auf’s Hochgericht?“ |
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Die Todten reden leise. |
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„„Ich kam, ein Kaufherr, über Rhein, |
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Und wollt’ um Waltraut’s Minne frein, |
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Und für ein güldnes Halsgeschmeid |
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Ließ sie mich ein zu nächt’ger Zeit; |
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Doch bei dem ersten Morgenroth, |
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Da hieß sie führen mich zum Tod, |
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Und rief: Die Kette gabst du mir, |
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Ich schenk’ die beste Weide dir!““ |
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Die Todten reden leise. |
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„Und du, mein goldgelocktes Kind, |
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Wie war wild Waltraut dir gesinnt!“ |
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Die Todten reden leise. |
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„„Ich war ein junger Fiedelmann, |
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Klein Waltraut sah mich lachend an. |
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Sie sprach: Was gibst du Kleiner mir? |
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So spiel’ ich heute nacht mit dir. |
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Meine Fiedel trug ein Purpurband, |
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Das gab ich in klein Waltraut’s Hand. |
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O weh! Wie glühend war ihr Mund, |
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Sie küßt’ mir beide Augen wund. |
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Und als der Tag durch’s Fenster sah, |
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Ihr weißes Tüchlein nahm sie da: |
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Laß binden die kranken Aeügelein zu! |
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Man soll dich bringen jetzt zur Ruh’, – |
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In frischer Luft, mein süßer Knab’, |
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Du bist zu hold für’s dumpfe Grab. |
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Da führten sie mich wie im Traum |
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Hinaus zum lichten Galgenbaum.““ |
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Die Todten reden leise. |
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Herr Odin spricht kein einz’ges Wort, |
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Die Winde sausen fort und fort. |
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Die Todten reden leise. – |
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Klein Waltraut sitzt beim Fackelschein |
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Und trinkt vom blutig roten Wein. |
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Da schallt ein Hufschlag dumpf und schwer, |
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Ein schwarzer Reiter saust daher. |
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„Halt an, du Reiter! Habe Acht! |
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Wohin in dieser finstern Nacht?“ |
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Da hält er an sein Roß zumal, |
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Sein Antlitz glänzt im Fackelstrahl. |
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„Halt an, du schöner Ritter mein! |
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Willst du heut’ Nacht mein Buhle sein?“ |
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„„O Maid! Verhülle deinen Leib! |
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Ich küsse nie ein menschlich Weib.““ |
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„O komm, du schöner Ritter mein! |
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Dir schenk’ ich Gold und Edelstein.“ |
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„„Ich nehme nichts von deiner Hand, |
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Als Dolch und Kett’ und Purpurband.““ |
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Da reicht sie’s ihm durch’s Fenster schnell: |
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„Das Thor ist offen, der Gang ist hell.“ |
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Doch er schwingt sie auf’s Roß geschwind |
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Und saust davon durch Sturm und Wind. – |
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Schon färbt ein Grau des Himmels Raum, |
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In’s Dunkel ragt der Galgenbaum. |
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Die Todten reden leise. |
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Was nahet dort wie Wettergeschoß? |
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Das ist Herrn Odin’s weißes Roß. |
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Die Todten reden leise. |
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„Hör’ auf, klein Waltraut, sag’ mir fein: |
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Kennst du die Drei am Rabenstein?“ |
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Die Todten reden leise. |
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„„O wehe, Herr, die kenn’ ich wohl! |
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Wie raunen sie so dumpf und hohl?““ |
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Die Todten reden leise. |
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„Komm näher doch, klein wild Waltraut! |
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Sie harren lang schon auf die Braut.“ |
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Die Todten reden leise. |
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Herr Odin schnüret unverwandt |
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Um’s Auge ihr das Purpurband; |
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Er legt ihr an die Kette noch, |
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Und stößt den Dolch in’s Galgenjoch, |
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Und eh’ drei Wort’ gesprochen sind, |
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Hängt klein wild Waltraut hoch im Wind. |
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Die Todten reden leise. |
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Wie flüstert’s doch am düstern Ort |
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Wie Gruß und Kuß und Liebeswort? |
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Die Todten reden leise. |
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Herr Odin kehrt sich schweigend um; |
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Der Morgen dämmert bleich und stumm, |
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Und von dem fernsten Himmelssaum |
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Trifft falbes Licht den Galgenbaum. |
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Der Todten Mund wird stille. |
Details zum Gedicht „Klein wild Waltraut“
Wilhelm Hertz
45
110
654
1859
Realismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Klein wild Waltraut“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Wilhelm Hertz. Im Jahr 1835 wurde Hertz in Stuttgart geboren. 1859 ist das Gedicht entstanden. In Hamburg ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Die Richtigkeit der Epoche sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 654 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 110 Versen mit insgesamt 45 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Wilhelm Hertz sind „Am Sarge eines jungen Mädchens“, „Treuliebchens Tod“ und „Versöhnung“. Zum Autor des Gedichtes „Klein wild Waltraut“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 11 Gedichte vor.
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- Unter blühenden Bäumen
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- Geist der Jugend
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Zum Autor Wilhelm Hertz sind auf abi-pur.de 11 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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