An Lottchen von Johann Wolfgang von Goethe

Mitten im Getümmel mancher Freuden,
Mancher Sorgen, mancher Herzensnot
Denk ich dein, o Lottchen, denken dein die beiden,
Wie beim stillen Abendrot
Du die Hand uns freundlich reichtest,
Da du uns auf reich bebauter Flur,
In dem Schoße herrlicher Natur,
Manche leicht verhüllte Spur
Einer lieben Seele zeigtest.
 
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Wohl ist mir's, daß ich dich nicht verkannt,
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Daß ich gleich dich in der ersten Stunde,
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Ganz den Herzensausdruck in dem Munde,
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Dich ein wahres gutes Kind genannt.
 
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Still und eng und ruhig auferzogen,
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Wirft man uns auf einmal in die Welt;
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Uns umspülen hunderttausend Wogen,
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Alles reizt uns, mancherlei gefällt,
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Mancherlei verdrießt uns, und von Stund zu Stunden
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Schwankt das leichtunruhige Gefühl;
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Wir empfinden, und was wir empfunden,
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Spült hinweg das bunte Weltgewühl.
 
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Wohl, ich weiß es, da durchschleicht uns innen
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Manche Hoffnung, mancher Schmerz.
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Lottchen, wer kennt unsre Sinnen?
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Lottchen, wer kennt unser Herz?
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Ach, es machte gern gekannt sein, überfließen
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In das Mitempfinden einer Kreatur
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Und vertrauend zwiefach neu genießen
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Alles Leid und Freude der Natur.
 
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Und da sucht das Aug so oft vergebens
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Ringsumher und findet alles zu;
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So vertaumelt sich der schönste Teil des Lebens
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Ohne Sturm und ohne Ruh;
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Und zu deinem ew'gen Unbehagen
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Stößt dich heute, was dich gestern zog.
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Kannst du zu der Welt nur Neigung tragen,
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Die so oft dich trog
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Und bei deinem Weh, bei deinem Glücke
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Blieb in eigenwill'ger, starrer Ruh?
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Sieh, da tritt der Geist in sich zurücke,
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Und das Herz - es schließt sich zu.
 
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So fand ich dich und ging dir frei entgegen.
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»O sie ist wert, zu sein geliebt!«
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Rief ich, erflehte dir des Himmels reinsten Segen,
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Den er dir nun in deiner Freundin gibt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.1 KB)

Details zum Gedicht „An Lottchen“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
45
Anzahl Wörter
278
Entstehungsjahr
1749 - 1832
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Johann Wolfgang von Goethe ist der Autor des Gedichtes „An Lottchen“. Geboren wurde Goethe im Jahr 1749 in Frankfurt am Main. Im Zeitraum zwischen 1765 und 1832 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet wird. Die Epoche ordnet sich nach der Literaturepoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter des Sturm und Drang waren häufig junge Autoren im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Schriftstellern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Zwei sich deutlich unterscheidende Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt: die Aufklärung und eine gefühlsbetonte Strömung, die durch den Sturm und Drang vertreten wurde. Die Weimarer Klassik ist im Grund genommen eine Verschmelzung dieser beiden Elemente. Die Weimarer Klassik nahm ihren Anfang mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und endete mit dem Tod von Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1832. Das Zentrum der Literatur der Weimarer Klassik lag in Weimar. Häufig wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Statt auf Konfrontation und Widerspruch wie noch in der Aufklärung oder im Sturm und Drang strebte die Klassik nach Harmonie. Die wichtigsten Werte sind Menschlichkeit und Toleranz. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ziel der Literaturepoche der Klassik war es die ästhetische Erziehung des Menschen zu einer „charakterschönen“ Persönlichkeit voranzutreiben. In der Weimarer Klassik wird eine einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Allgemeingültige, kurze Aussagen (Sentenzen) sind häufig in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, legte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich häufig an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Die bekanntesten Dichter der Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das Gedicht besteht aus 45 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 278 Worte. Johann Wolfgang von Goethe ist auch der Autor für Gedichte wie „An den Selbstherscher“, „An die Entfernte“ und „An die Günstigen“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „An Lottchen“ weitere 1617 Gedichte vor.

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