Erst achtzehn Jahr von Georg Weerth

Ein letztes Glüh’n! Da zog an britt’scher Küste
Dämmernd herauf die schönste Winternacht;
Im Mondenstrahle floß die Wasserwüste
Und auf den Hügeln lag des Schnees Pracht.
Leer das Gestad. Es schwieg der Dämpfer Sausen;
Matros’ und Krieger war des Tages matt; –
Doch durch die Stille sandte dumpf ihr Brausen
London, der Themse dunkle Riesenstadt.
 
Ihr galt es gleich, mocht’ auch der Schlummer drücken
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Manch müdes Auge zu ersehnter Ruh;
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Es wälzte donnernd über Park und Brücken
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Derselbe Lärm sich nur dem Morgen zu.
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Zaubrisch und still da draußen das Gefild!
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Hier nur das Volk, in buntem Strome, wild
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Zusammenfluthend, schaffend, ringend, suchend,
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Schwelgend und darbend, betend bald und fluchend!
 
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Und Schimmern rings, von Dach und Thor und Fenster;
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Dort buhlt die Luft in seidenem Gewand!
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Hier über’m Golde höhnische Gespenster
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Und dort geballt die mag’re Bettlerhand!
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Ein Seufzer hier; ein Kuß dort! von Terrassen
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Und Treppen: Jubel, Flüstern und Gestöhn –
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Das ist der Tanz, in dem auf London’s Gassen
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Sich rastlos zwei Millionen Menschen dreh’n!
 
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Er brauste fort. Da hob auch Sie vom Lager
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Sich sacht empor; es fiel der Sterne Licht
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Auf die Gestalt so tief gebeugt, so hager,
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Und auf ihr bleiches, starres Angesicht.
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Sie sann; – nur einen Augenblick; – sie preßte
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Das kranke Kind an ihre nackte Brust; –
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Das arme Weib schritt rasch durch die Paläste;
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Ach! das Wohin – sie hat es nicht gewußt!
 
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„Der Mutter Brot! und Kleider diesem Kinde!“
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So rief sie. „O, wie toll das Herz mir schlägt!
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Gern trüg’ ich dich, mein Sohn, so warm und linde,
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Wie wohl die Mutter ihre Kinder trägt.
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Noch ist es Zeit! Bist du erst groß gezogen
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Und siehst am Strand der Schiffe bunte Schaar:
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Da eil’st du treulos durch die blauen Wogen,
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Ein wilder Seemann, wie dein Vater war!“
 
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„Dein Vater? Still! – das war ein sel’ger Morgen,
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Als weinend ich an seiner Brust erwacht!
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Es kam der Mai, der Juni drauf, verborgen
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Hielt ich, was früh mich schon so bleich gemacht.
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Erst als im Herbst das gelbe Laub der Bäume
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Leis rauschend in die grüne Themse fiel:
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Da ward erfüllt der schönste meiner Träume –
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Und achtzehn Jahr, da steh’ ich schon am Ziel!“
 
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Erst achtzehn Jahr! und schon so fahl mein Leben!
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Erst achtzehn Jahr! und arm und elend schon!
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Doch halt! – froh will ich meine Stirne heben,
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Dem Vaterlande gab ich diesen Sohn!
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Ha! reizt denn Niemand mein so junger Leib?
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Sagt, die ihr klirrt mit Kreuzen und mit Ketten,
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Seid ihr nicht reich genug, um nur ein Weib,
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Ein brittisch Weib vom Hungertod zu retten?“
 
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Sie schwieg. Dem Gott, der niemals sie erhörte,
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Sie sandte kein Gebet ihm himmelwärts.
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Trüb ward ihr Blick. – Das siedend sich empörte,
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Ihr Blut, zu Eis gerann’s; – ausschlug ihr Herz!
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Die Lippe bebend jetzt von einem Fluche! –
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Ein Lächeln dann – sie sank, – rings tiefe Ruh –
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Und die Natur mit schnee’gem Leichentuche
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Deckte das reinste ihrer Kinder zu! –
 
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Geschloss’nen Aug’s, erstarrt der Knabe lag
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Fest an der Mutter marmorkalten Brüsten,
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Als weit ein Leuchten durch den Nebel brach
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Und Sonnenstrahlen Strom und Hügel küs’ten:
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Fern von Westminster feierlich Geläut, –
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So tönt es an der Kön’ge Sarkophagen; –
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Es klang so weit, – es war als müßt’ es heut’
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Rings nur der Welt den Tod der Armen klagen! –
 
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Die Glocke klang – doch nicht für dich gerührt,
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Armselig Weib! Getrost! laß sie erdröhnen
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Den todten Kön’gen nur. Dir ja gebührt,
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Du früh Verblich’ne, wohl ein ander Tönen.
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Dir tönt der Schrei, den jüngst die Noth gepreßt
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Aus tausend Herzen; der in Ost und West
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Die Völker ruft in einen Bund zusammen –
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Und deine Mörder werden sie verdammen!

Details zum Gedicht „Erst achtzehn Jahr“

Autor
Georg Weerth
Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
608
Entstehungsjahr
nach 1838
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Erst achtzehn Jahr“ wurde von Georg Weerth verfasst. Weerth, geboren 1822 und gestorben 1856, war ein Pionier der deutschen Arbeiterliteratur und eine wichtige Figur in der frühen Arbeiterbewegung. Das Gedicht veröffentlichte er im Jahre 1848, dem Jahr der europäischen Revolution.

Der erste Eindruck des Gedichts ist von einer melancholischen und beklemmenden Stimmung gekennzeichnet. Der im Gedicht dargestellte Ort, London, wird als lebhaft und geschäftig, aber gleichzeitig unerbittlich und gnadenlos dargestellt.

Inhaltlich handelt das Gedicht von einer jungen Frau, die trotz ihrer Jugend bereits stark vom Leben gezeichnet ist. Sie kämpft mit der harten Realität des Lebens in einer großen Stadt, arm und allein mit einem kranken Kind. Das lyrische Ich beschreibt den Kampf der Mutter ums Überleben und ihr letztendliches Scheitern, ihren Kampfgeist, ihre Verzweiflung und ihre schließlich ihren Tod.

Das Gedicht ist in zehn Strophen mit je acht Versen strukturiert, wobei der Reimschema abcbdefe folgt. Die Sprache ist formell und poetisch mit einer reichen Bilderwelt und starken Emotionen. Kontraste wie die Schönheit der Stadt gegen die harte Realität des Überlebens, Freude und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung sind stark in den Text eingewoben.

Im Allgemeinen zeichnet das Gedicht ein düsteres Bild des Lebens der Arbeiterklasse im viktorianischen London. Dabei setzt der Autor sowohl die Schönheit als auch das Elend der Stadt in Kontrast. Die Mutterfigur steht für Hunderttausende in der gleichen Situation und ihr tragischer Tod ist ein starkes Statement gegen die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Zeit. „Erst achtzehn Jahr“ ist damit ein deutliches politisches Gedicht, das Unrecht anprangert und gleichzeitig den Leser emotional berührt. Es ist typischer Vertreter für Weerths sozialkritische Lyrik und prägend für die Arbeiterliteratur der Zeit.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Erst achtzehn Jahr“ ist Georg Weerth. 1822 wurde Weerth in Detmold geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1838 und 1856. Zürich ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Weerth ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 608 Worte. Georg Weerth ist auch der Autor für Gedichte wie „Die rheinischen Weinbauern.“, „Freund Lenz“ und „Gebet eines Irländers“. Zum Autor des Gedichtes „Erst achtzehn Jahr“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 12 Gedichte vor.

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