Traum von Ernst Moritz Arndt

Es war die schönste Frühlingszeit,
Die Erde trug ihr Blumenkleid,
Die Vögel aus den Zweigen sangen,
Die Wasser von den Bergen klangen,
Und Lust und Jubel überall
Klang rings mit süßem Freudenschall.
Da kam ich eines Morgens früh
In einen Garten, ich weiß nicht wie,
Von Blumen und von Kräutern bunt;
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Drin sang der Nachtigallen Mund,
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Und Lerchen sangen ohne Zahl
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Hernieder von dem Himmelssaal.
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Der Garten schien mir wohl bekannt,
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Die Mauern und der Scheunen Wand,
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An Bäumen mancherlei und Hecken
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Mir tät gar tiefe Sehnsucht wecken,
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Als hätt' in meinen Kindertagen
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Ich dort oft Äpfel abgeschlagen,
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Und im Gebüsche linker Hand
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Im Herbste Dohnen ausgespannt.
 
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Als ich nun also sinnend stand,
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Ward plötzlich hell der Himmelsrand,
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Die Dämmrung war in Rauch zerronnen,
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Und alle Sterne wurden Sonnen,
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Und Büsch' und Bäume mit den Zweigen
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Fingen alle an emporzusteigen
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Bis zu des Himmels lichten Decken,
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Und Riesen wurden Sträuch' und Hecken,
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Auch Mauern und Scheunen hielten Schritt
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Und stiegen in die Wolken mit.
 
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Als alles dies ich staunend sah,
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War gleich ein neues Wunder da:
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Auf aller Bäume Wipfeln schön
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Sah ich den Glanz von Rosen stehn
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Und Engel funkelnd ohne Zahl
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Herniedergehn und allzumal
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Wie kleine Kinder mit Vergnügen
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Sich auf den Rosenköpfen wiegen.
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Wie selig schaute ich darein,
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Wie Vögel in den Morgenschein!
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Doch zog ein liebliches Geläute
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Mich bald hinweg zur linken Seite.
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Ich sah, da stand ein strohen Haus,
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Da flogen Tauben ein und aus
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Und girrten lustig auf dem Dache,
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Auch hielten Hähne Türenwache
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Und krähten froh aus frischer Brust
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Die Liebe und die Morgenlust;
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Auch alle Schwalben unterm Dach
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Begrüßten mit den jungen Tag.
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Das Häuschen selbst, nicht hoch noch lang,
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War nett von außen, die Fenster blank,
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Die Ständer grün, die Wände weiß,
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Gefegt, geziert umher mit Fleiß;
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Und Balsamin und Rosmarin
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Prangten rings in Töpfen rot und grün.
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Und in des Hauses Türe stand
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Ein Weib wie her aus fremdem Land,
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Mit blauen Augen gleich Himmelschein
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Schaut's in das Lenzgewimmel hinein,
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Sah freundlich aus und gar bescheiden,
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Wie Engel sich mit Demut kleiden,
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Oft auch die lächelnde Gebärde
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Sie senkte halb zur grünen Erde.
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Als ich nun näher komm' ans Haus,
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Da tritt sie von der Schwell' heraus,
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Geht lieblich winkend mir entgegen
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Und zeichnet mit den Fingern Segen,
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Springt her und nimmt mich in den Arm
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Und küßt mich mit den Lippen warm
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Und gönnt mir lieben Augenschein.
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Ich sah, es war die Mutter mein,
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Der beste Schatz, den mir im Leben
74 
Der liebe fromme Gott gegeben.
 
75 
Als wir noch also fröhlich stehn,
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Sehn wir ein Mägdlein näher gehn,
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Ein schönes, junges, frommes Kind,
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Wie Lilien und Rosen sind;
79 
Ihr Gruß ist süß, ihr Blick ist mild,
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Ein rechtes weißes Engelbild.
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So himmlisch hold und wundersam
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Mir einst ein Bild entgegenkam
83 
Im Traum in meinen frühen Jahren,
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Als meiner Sommer sechzehn waren.
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Wie ich das schöne Mägdlein seh',
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Springt hoch das Herz mir in die Höh',
87 
Ich will sie brünstig gleich umfassen,
88 
Doch will sie sich nicht fangen lassen
89 
Und hüpft holdseliger Gebär
90 
Durch Busch und Blumen vor mir her.
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Schon ward sie matt der süßen Jagd,
92 
Als plötzlich laut der Himmel kracht,
93 
Die Sterne hüllen Wolken ein,
94 
Weg sind die Engel und ihr Schein,
95 
Weg sind die Frauen beim Getümmel,
96 
Das ganze liebliche Gewimmel,
97 
Die Blumen und die Rosenbäume.
 
98 
So spielen oft um uns die Träume
99 
Und gaukeln manchen losen Scherz,
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Auch manchen Ernst uns in das Herz.
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Glückselig ist, wer, wann er wacht,
102 
Zu sehr nicht auf die Bilder acht't:
103 
Sie sind kein Evangelienbuch
104 
Und bringen öfter eitel Trug,
105 
Verführen leicht die grüne Jugend.
106 
Doch folgest du Vernunft und Tugend,
107 
Und ist dein Busen spiegelrein,
108 
So sind sie gleich dem Himmelschein,
109 
Der, wann entschläft das Licht der Welt,
110 
Hernieder auf die Erde fällt,
111 
Das Herz erquickt und gar verjüngt
112 
Und Lust und süßen Frieden bringt,
113 
Und was der Tag nicht zeigen kann
114 
In Bildern zeigt vor Weib und Mann.
115 
Doch, wenn dich Torheit äfft und schaukelt,
116 
Dir Wahn um alle Sinne gaukelt,
117 
Und Unruh' weiter will und weiter,
118 
So sind sie aller Narrheit Leiter,
119 
Verdunkeln deines Himmels Licht
120 
Und machen dich zum argen Wicht.
121 
Dann wird dein Herz ein Satansnest,
122 
Das nirgends Ruh' und Frieden läßt,
123 
Ein Spahn, der in dem Weltmeer schwimmt,
124 
Ein Funke, der bei Pulver glimmt.
125 
Es woll' uns heint und auch nach Jahren
126 
Vor solchen Träumen Gott bewahren!

Details zum Gedicht „Traum“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
126
Anzahl Wörter
724
Entstehungsjahr
1811
Epoche
Klassik,
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Traum“ wurde von Ernst Moritz Arndt (1769-1860) verfasst. Dieser war ein deutscher Schriftsteller und Politiker, und einer der bekanntesten deutschsprachigen Lyriker seiner Zeit. Arndt war ein bedeutender Befürworter der deutschen Befreiungsbewegung sowie des liberalen und nationalen Gedankenguts im Vormärz. Das Gedicht „Traum“ kann historisch in diese Zeit eingeordnet werden, es weist aber keinen expliziten Bezug zu den politischen Entwicklungen auf.

Erster Eindruck: Das Gedicht macht auf den ersten Blick den Eindruck einer beschreibenden und erzählenden Lyrik. Es scheinen verschiedene Szenen und Bilder aus einem Traum präsentiert zu werden.

Inhalt: Das lyrische Ich erzählt von einem Traum, in dem es einen Garten betritt, der ihm wohl bekannt erscheint, so als hätte es schon in seiner Kindheit dort Zeit verbracht. In einer zweiten Strophe ändert sich das Bild und der Himmel leuchtet hell, während Büsche und Bäume zu Riesen heranwachsen. In den nächsten Strophen beschreibt das Ich weitere fantastische Szenen: Engel, die auf Rosen wipfeln, ein strohernes Haus, aus dem Tauben ein- und ausfliegen, ein freundlich aussehendes Weib, das sich als die Mutter des Ich erweist, und ein junges Mädchen, das es beinahe umarmt - bis der Traum abrupt endet. In der letzten Strophe reflektiert das lyrische Ich über den Sinn und die Bedeutung von Träumen und mahnt zur Vorsicht im Umgang mit ihnen.

Form und Sprache: Das Gedicht hat eine klare und strukturierte Form, aufgeteilt in fünf Strophen mit jeweils unterschiedlich vielen Versen. Die Sprache ist bildhaft und lyrisch, geprägt von vielen Naturmetaphern und allegorischen Elementen. Diese helfen dabei, die Traumwelt plastisch und lebendig zu gestalten, und verstärken die Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit, die der Traum mit sich bringt. Ein zentrales Thema ist dabei die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit, die sowohl auf den Traum als auch auf das Leben an sich verweisen könnte.

Zusammenfassend handelt es sich bei „Traum“ um ein philosophisch, reflexives Gedicht, das die Natur des Traumes und seine Bedeutung für das Leben und die menschliche Persönlichkeit ergründet.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Traum“ des Autors Ernst Moritz Arndt. 1769 wurde Arndt in Groß Schoritz (Rügen) geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1811 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Klassik oder Romantik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 724 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 126 Versen. Ernst Moritz Arndt ist auch der Autor für Gedichte wie „Elegie“, „Die Biene und der Lenz“ und „Leben“. Zum Autor des Gedichtes „Traum“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 285 Gedichte vor.

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