Der Besuch von Johann Wolfgang von Goethe

Meine Liebste wollt ich heut beschleichen,
Aber ihre Thüre war verschlossen.
Hab ich doch den Schlüssel in der Tasche!
Oeffn’ ich leise die geliebte Thüre!
 
Auf dem Saale fand ich nicht das Mädchen,
Fand das Mädchen nicht in ihrer Stube,
Endlich da ich leis die Kammer öfne,
Find ich sie, gar zierlich eingeschlafen,
Angekleidet auf dem Bette liegen.
 
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Bei der Arbeit war sie eingeschlafen,
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Das Gestrickte mit den Nadeln ruhte
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Zwischen den gefaltnen zarten Händen.
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Und ich setzte mich an ihre Seite,
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Gieng bey mir zu Rath’, ob ich sie weckte?
 
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Da betrachtet’ ich den schönen Frieden,
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Der auf ihren Augenliedern ruhte;
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Auf den Lippen war die stille Treue,
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Auf den Wangen Lieblichkeit zu Hause,
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Und die Unschuld eines guten Herzens
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Regte sich im Busen hin und wieder.
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Jedes ihrer Glieder lag gefällig,
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Aufgelöst von süßem Götterbalsam.
 
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Freudig saß ich da, und die Betrachtung
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Hielte die Begierde sie zu wecken
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Mit geheimen Banden fest und fester.
 
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O du Liebe, dacht ich, kann der Schlummer,
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Der Verräther jedes falschen Zuges,
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Kann er dir nicht schaden, nichts entdecken,
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Was des Freundes zarte Meynung störte?
 
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Deine holden Augen sind geschlossen,
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Die mich offen schon allein bezaubern;
 
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Es bewegen deine süßen Lippen
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Weder sich zur Rede noch zum Kusse;
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Aufgelöst sind diese Zauberbande
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Deiner Arme, die mich sonst umschlingen,
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Und die Hand, die reizende Gefährtin
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Süßer Schmeicheleien, unbeweglich.
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Wärs ein Irrthum, wie ich von dir denke,
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Wär’ es Selbstbetrug, wie ich dich liebe,
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Müßt’ ichs itzt entdecken, da sich Amor
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Ohne Binde neben mich gestellet.
 
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Lange saß ich so, und freute herzlich
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Ihres Werths mich und meiner Liebe,
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Schlafend hatte sie mir so gefallen,
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Daß ich mich nicht traute sie zu wecken.
 
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Leise leg’ ich ihr zwei Pomeranzen
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Und zwei Rosen auf das Tischgen nieder,
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Sachte, sachte schleich’ ich meiner Wege.
 
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Oefnet sie die Augen, meine Gute,
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Gleich erblickt sie diese bunte Gabe,
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Staunt, wie immer bey verschloßnen Thüren
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Dieses freundliche Geschenk sich finde.
 
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Seh ich diese Nacht den Engel wieder.
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O! wie freut sie sich, vergilt mir doppelt
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Dieses Opfer meiner zarten Liebe.
56 
GÖTHE.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.9 KB)

Details zum Gedicht „Der Besuch“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
341
Entstehungsjahr
1796
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Besuch“ stammt vom deutschen klassischen Dichter Johann Wolfgang von Goethe. Goethe wurde 1749 geboren und starb 1832. Daher kann man das Gedicht grob der literarischen Epoche des Sturm und Drang bzw. der Weimarer Klassik zuordnen.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht von der romantischen Bewunderung und Zärtlichkeit eines Liebhabers zu erzählen, der seine Geliebte heimlich besucht, während sie schläft. Der Inhalt beschreibt detailliert das lyrische Ich, wie es in das Zimmer seiner schlafenden geliebten Frau schleicht. Es betrachtet sie in ihrem Schlaf und sinniert über ihre Schönheit, ihre Unschuld und ihre Tugenden. Es ist so hingerissen von dem friedlichen Anblick, der sich ihm bietet, dass es sich nicht traut, sie zu wecken. Statt sie zu wecken, hinterlässt das lyrische Ich still zwei Pomeranzen und zwei Rosen als Geschenk auf ihrem Tisch und schleicht sich wieder davon, in der Hoffnung, dass seine Gute, wenn sie erwacht, die bunte Gabe bemerkt und sich doppelt freuen wird.

In Bezug auf die Form ist das Gedicht in freie Verse geschrieben, ohne einen klaren Reim- oder Rhythmusmuster. Es besteht aus zwölf Strophen mit jeweils unterschiedlichen Versanzahlen. Die Sprache ist gehoben, mit gelegentlicher Verwendung von archaischen Wörtern und Wendungen, die typisch für die Zeit sind, in der das Gedicht geschrieben wurde. Es gibt auch eine metaphysikische Dimension in der Darstellung der Liebe und der Betrachtung der schlafenden Frau, die sich in den Anspielungen auf den antiken Liebesgott Amor zeigt.

Das Gedicht kann als eine Manifestation der Bewunderung und Respekt des lyrischen Ichs für die liebende Frau gesehen werden. Es stellt die reine, zärtliche Liebe dar, die nicht nur durch körperliche Attraktivität, sondern auch durch innere Schönheit und gutes Herz gewonnen wird. Außerdem betont es die Wertschätzung der Stille und des Moments, während der Verrat und die Untreue, die im Schlaf enthüllt werden könnten, keine Bedrohung darstellen, da das lyrische Ich völliges Vertrauen in die Liebe und Treue der Geliebten hat.

Weitere Informationen

Johann Wolfgang von Goethe ist der Autor des Gedichtes „Der Besuch“. 1749 wurde Goethe in Frankfurt am Main geboren. 1796 ist das Gedicht entstanden. Neustrelitz ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Goethe ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um Schriftsteller jüngeren Alters. In den Dichtungen wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Mit der Hinwendung Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Einer der wichtigsten Autoren der deutschen Klassik ist Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar). Seine Italienreise im Jahr 1786 wird als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Goethe prägte die Klassik ganz wesentlich. Sein Todesjahr (1832) kennzeichnet gleichzeitig das Ende dieser Epoche. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Zum Teil wird auch Jena als ein weiteres Zentrum dieser Literaturepoche angesehen. Die Weimarer Klassik geht von einer Erziehbarkeit des Menschen zum Guten aus. Ihr Bestreben ist die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Die Autoren der Weimarer Klassik gingen davon aus, dass Gott den Menschen Vernunft und Gefühle gibt und die Menschen damit dem Leben einen Sinn geben. Der Mensch ist also von höheren Mächten bestimmt. In der Klassik wird eine sehr geordnete, einheitliche Sprache verwendet. Kurze, allgemeingültige Aussagen sind oftmals in Werken der Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, legte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich häufig an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Goethe, Schiller, Wieland und Herder bildeten das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik. Es gab natürlich auch noch weitere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das vorliegende Gedicht umfasst 341 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 56 Versen. Die Gedichte „An die Entfernte“, „An die Günstigen“ und „An einen jungen Prahler“ sind weitere Werke des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Zum Autor des Gedichtes „Der Besuch“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.

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